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Abschluß- und Diplomarbeit der Ausbildung in Traditioneller Chinesischer Medizin am Ausbildungszentrum Süd der Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin e.V.

 Jahrgang 1998

 „Einführende Betrachtung der chinesischen Pulslehre und Besprechung ausgewählter Pulsqualitäten an Radialistaststellen anhand deutschsprachiger Sekundärliteratur zur Traditionellen Chinesischen Medizin.“

 
Michael van Gorkom, Wisbacherstraße 1, Bad Reichenhall

Vorwort

Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Lehrern des Ausbildungszentrums Süd bedanken, die mich in den vergangenen Jahren in die klassischen chinesischen Heilweisen eingeführt haben. Allen voran möchte ich Herbert Vater danken, der mich als Lehrer und Freund gefördert hat und mir ermöglichte, in seiner Praxis erste Schritte aus der Theorie in die Arbeitswelt des Therapeuten zu wagen. Ihm möchte ich diese Arbeit widmen, nicht zuletzt auch deswegen, weil er mein Interesse an der Methode der chinesischen Pulsdiagnose weckte und durch seine eigene Anwendung dieser Kunst und den daraus resultierenden Behandlungen mir ihren hohen diagnostischen Wert eindrucksvoll vor Augen führte. Auch wenn ich heute von der meisterlichen Anwendung dieser Methode noch weit entfernt bin und weiß, welch langer Weg noch vor mir liegt, bin ich doch von der Notwendigkeit, diesen Weg zu gehen, überzeugt. Die theoretische Betrachtung der Pulsqualitäten stellt in diesem Sinne einen Schritt dar.

 Michael van Gorkom, im April 1999

Der Abdruck sowie die Vervielfältigung dieser Arbeit, auch auszugsweise, bedarf der ausdrücklichen und schriftlichen Genehmigung des Verfassers.


Inhalt

  • Einführung

  • Pulspositionen

  • Die Pulsebenen

  • Das Procedere der Pulstastung

  • Der physiologische Puls.

  • Magen-QI des Pulses

  • Geist-SHEN des Pulses

  • Wurzel-GEN des Pulses

  • Besprechung von sechs Grundpulsarten.

  • Die Fülle und Leere des Pulses – XU MAI und SHI MAI

  • XU MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • SHI MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • Die Geschwindigkeit des Pulses – SHOU MAI und CHI MAI

  • Exkurs: Gegenüberstellung der wissenschaftlichen Paradigmen der traditionellen chinesischen und der neuzeitlich westlichen Wissenschaftskultur.. 21

  • SHOU MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • CHI MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • Die Tiefe des Pulses – FU MAI und CHEN MAI

  • FU MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • CHEN MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • Weitere häufige Pulsqualitäten – XIAN MAI, HONG MAI und HUA MAI

  • XIAN MAI.

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • HONG MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • HUA MAI

  • Beschreibung

  • Bewertung

  • Die Wandlungsphasenpulse

  • Anhang: Tabellen

  • Nomenklative Tabelle der Pulspositionen in der Chinesischen Medizin

  • Vergleichende Tabelle der Abbildung von ZANGFU an den Pulstaststellen in ausgewählten Klassikern der Chinesischen Medizin

  • Tabelle der neun Körperpulstaststellen

  • Nomenklative Tabelle der Pulsqualitäten in der Chinesischen Medizin

  • Literatur

Einführung

Die chinesische Pulslehre stellt ein faszinierendes Feld über Jahrtausende angesammlten empirischen Wissens dar, das in seiner Bedeutung für den Therapeuten der Chinesischen Medizin kaum überschätzt werden kann. Allerdings führen unsere schnellebige und facettenreichen Umwelt und westliche Lehrsysteme häufig dazu, daß der Lernende nicht die Zeit und die Lehrer findet, Erfahrungswissen unter Supervision zu erwerben. Auf sich alleine gestellt, gibt er oft teurem, vermeintlich objektivem und schnellem technischen Gerät den Vorzug vor zeitlichem Aufwand und persönlicher Mühe. Die traditionelle chinesische Pulsdiagnose entzieht sich jedoch dieser Technologisierung. Deshalb kann beobachtet werden, daß selbst traditionell ausbildende Lehrer heute nicht mehr über das Wissen, die Sicherheit und das Bewußtsein verfügen, um Lernende von der Notwendigkeit des Studiums der chinesischen Pulsdiagnose zu überzeugen.

Das gesamte System der Traditionellen Chinesischen Medizin bezieht sich immer wieder auf sich selbst und kann nur dann kohärent angewendet werden, wenn nicht aus pragmatischen Erwägungen Teile dieses Systems weggelassen oder verschliffen werden.

Die chinesische Gesellschaft war über Jahrhunderte sehr puritanisch. Es galt als unschicklich, Patienten zu entkleiden. Dies zwang den diagnostizierenden Behandler, Methoden zu entwickeln, die diesen weit gespannten Intimbereich des Patienten respektierten. Auch Leichenschau oder gar Sektion gab es aus Gründen der Ahnenverehrung und der Geisterfurcht nur in marginalem Ausmaß. So entwickelte man Diagnoseverfahren wie die Zungen- oder Antlitzdiagnose und eben auch die Pulsdiagnose. Selbst wenn wir heute viele westliche diagnostische Verfahren besitzen, stehen wir als Behandler der Chinesischen Medizin vor dem Problem, deren Ergebnisse häufig nicht oder nur unzureichend in unsere Therapieform übersetzen zu können. Damit jedoch sind uns viele Möglichkeiten verbaut, unseren Patienten zu helfen, wenn wir nicht gewillt sind, die Chinesische Medizin in ihrer philosophischen, diagnostischen und therapeutischen Ganzheit zu erlernen. Das therapeutische Spektrum der Chinesischen Medizin erschließt sich nur dem vollständig, der in der Lage ist, auf die chinesische Diagnostik zurückzugreifen.

Die Pulsuntersuchung in differenzierter Form ist nicht nur der Chinesischen Medizin vorbehalten. Beipielsweise liegt in einem 3600 Jahre alten ägyptischen Papyrus schon eine Beschreibung der Pulsuntersuchung vor (Edwin Smith Surgical Papyrus). Galen von Pergamon (129-200 n.Chr.) schrieb 18 Abhandlungen zum Pulsthema und ist dabei wesentlich präziser als das chinesische Schriftgut. Er arbeitete über 100 Pulstypen in Abhängigkeit von Größe, Stärke, Geschwindigkeit, Dauer von Diastole und Systole, Frequenz und Härte des Pulses aus. Bis ins 18. Jahrhundert wurden im Westen Pulskathegorien benutzt, die bei Galen ihren Ursprung hatten (z.B. `Gazellenpuls´ oder `mäuseschwänziger Puls´).

Der mir auferlegte begrenzte Umfang dieser Arbeit macht es unmöglich, alle Pulsqualitäten der chinesischen Pulsdiagnose zu besprechen. Auch wäre es sicherlich möglich, zu jeder Pulsqualität ein einzelnes Buch zu schreiben. Deshalb kann und will diese Arbeit das Vorgestellte nicht annähernd erschöpfend behandeln. Die Auswahl der vorgestellten Pulsqualitäten und der Aufbau der Arbeit erfolgten einerseits nach dem Kriterium der klinischen Häufigkeit, zum anderen nach dem antagonistischen Verhältnis vieler Pulse. Ein weiteres Kriterium war das Modell der Wandlungsphasenpulse, das zwar oberflächlich, aber dennoch vollständig beschrieben werden sollte.

Ein weiteres Anliegen war mir, daß der Leser versteht, warum ich die chinesische Terminologie anderen Sprachen - und auch meiner Muttersprache - vorziehe. Für mich hat sich herausgestellt, daß ein chinesischer Ausdruck durch eigene Erfahrung wesentlich besser mit einer spezifischen Bedeutung `gefüllt´ werden kann, als dies bei einer muttersprachlichen Vokabel mit bereits vorhandener Konnotation der Fall sein kann. Wer es nicht glaubt, kann einmal eine `sittsame´ Patientin mit der Aussage konfrontieren, sie hätte `schlüpfrige´ Pulse.

Ein weiterer Vorteil der Verwendung chinesischer Begriffe ist das Ausklammern translatorischer Ungenauigkeiten der nicht-chinesischen Sekundärliteratur. Westliche Literatur zur Chinesischen Medizin hat nicht nur die Übersetzung aus der chinesischen Primärliteratur hinter sich, sondern wird dazu häufig innerhalb westlicher Sprachen hin- und herübersetzt. All die Verschleifungen und Fehler, die daraus resultieren, werden neutralisiert, wenn man sich an die chinesischen Orginaltermini hält.

Zum Schluß dieser Einleitung will ich jedoch auch klar betont haben, daß ein Puls oder Pulsbild, für sich alleine genommen, wenig Aussagekraft besitzt. Nur im Kontext mit der Konstitution eines Patienten und zusammen mit anderen diagnostischen Zeichen hilft es dem Therapeuten, eine Diagnose zu erstellen.

Pulspositionen

Wie schon in der Einleitung erwähnt, beschäftigt sich diese Arbeit nur mit der Pulstastung der sogenannten Radialispulse, also der Pulse, die man jeweils auf der Daumenseite der Handgelenke körperwärts der Handgelenksfalte an beiden Unterarmen tasten kann. Allerdings muß gesagt werden, daß die Traditionelle Chinesische Medizin desweiteren auch Taststellen am gesamten Körper kennt und verwendet. Auch wenn dieses Verfahren hier nicht Gegenstand der Betrachtung ist, soll kurz auf diese Pulspositionen eingegangen werden. Porkert nennt diese Pulse im Gegensatz zu den Radialispulsen Körper- oder Repräsentativpulse. Insgesamt gibt es über den Körper verteilt neun Stück. Jeweils drei Pulse am Kopf, an der Hand und am Fuß [1] . Wie der Name `Repräsentativpulse´ schon sagt, geben sie Aufschluß über den energetischen Zustand einzelner Körperbereiche. In ihrer anatomischen Lokalisation fallen sie samt und sonders mit Akupunkturpunkten zusammen.  Eine tabellarische Aufstellung dieser Pulspositionen und den Körperregionen, denen sie zugeordnet sind, findet sich im Anhang. Zu bemerken ist noch, daß hier der Charakter des Pulses viel weniger differenziert ermittelt wird als an den Radialistaststellen. Eingeteilt wird nur nach den Kriterien Fülle, Geschwindigkeit und Tiefe. Dieses in China als `dreiteilige Pulsdiagnostik´ bezeichnete Verfahren wird auch dort nur noch selten angewendet.

Zurück zu den Radialispulsen. An jedem Handgelenk finden sich drei Taststellen. Man orientiert sich dabei am Radialisköpfchen, dem processus styloideus radii. Etwas nach ulnar findet sich hier zwischen dem Radialisköpfchen und der Sehne des speichenseitigen Handbeugers die Radialisarterie. An dieser Stelle kommt der Mittelfinger des Untersuchers zu liegen und befindet sich dabei auf der mittleren oder GUAN [2] -Position. Legt man nun Zeige- und Ringfinger am Mittelfinger anliegend jeweils proximal und distal davon, kommt beim  der Ringfinger proximal auf der CHI [3] -Position, der Zeigefinger distal auf der

CUN [4] -Position [5] zu liegen [6] . Natürlich kann ein großer Unterschied des Körperbaus von Behandler und Patient fordern, die Auflagepositionen der Finger diesem Umstand anzupassen. So wird eine große Hand beim Erfühlen der Pulse einer zart gebauten Person die Positionen nur finden, wenn der jeweilige Finger einzeln aufgelegt wird, im umgekehrten Falle werden beim gleichzeitigen Auflegen der Finger Lücken zwischen diesen zu bestehen haben.

Ebenso ist auf anatomische Besonderheiten des Patienten einzugehen. Es ist beispielsweise möglich, daß sich die Radialisarterie in der CHI-Position schon in zwei Verläufe geteilt hat. In diesem Fall ist der ulnare Verlauf für die Ermittlung des Pulses zu wählen [7] .

Wir haben jetzt drei Radialispulstaststellen jeweils am linken und rechten Handgelenk definiert. Diesen sechs Stellen wird eine besondere Aussagekraft für je ein Yin/Yang- Funktionskreisgespann zugeschrieben. Daß diese Zuordnung im Laufe von mehreren tausend Jahren Veränderungen erfahren hat und Beschreibungen unterschiedlicher Epochen Abweichungen besitzen, verwundert nicht. Grundlegend machen diese Modelle jedoch immer die gleichen Aussagen. In dieser Arbeit wird nur das Modell der Positionen nach Li Shi-zhen [8] vorgestellt [9] .Es unterscheidet nicht - wie nahezu alle anderen Modelle - zwischen oberflächlichem und tiefem Pulscharakter. D.h. es ordnet jeder Pulstaststelle nur ein Organ zu. Dabei handelt es sich stets um ein ZANG-Organ.
Hier eine tabellarische Zuordnung:

Position

 

Linke Hand

Rechte Hand

CUN

Oberer Erwärmer

Herz

Feuer

Lunge

Metall

GUAN

Mittlerer Erwärmer

Leber

Holz

Milz

Erde

CHI

Unterer Erwärmer

Niere

Wasser

Niere

Wasser

Wird in anderen Modellen einer Position ein weiteres Organ zugeordnet, handelt es sich in fast ausnahmsloser Regel um das dem jeweiligen ZANG in der YIN/YANG-Paarung zugeordnete FU. Also dem Herz ist der Dünndarm zugeordnet, der Lunge der Dickdarm u.s.w. Damit ist allen Modellen eines gemein. Sie ordnen alle das ZANG mit oder ohne der ausdrücklichen Nennung des FU einer gleichen Pulsstelle zu. Betrachtet man dies im Modell der Fünf Wandlungsphasen, wird man deshalb immer beispielsweise das `Holz´ mit seinen Funktionskreis- und Organrepräsentanten Leber als ZANG und Gallenblase als FU in der GUAN-Position der linken Hand finden.

Viele Autoren, zumeist in polulärer Tertiärliteratur,  behaupten nun eine Pulsposition würde an der Oberfläche das FU-Organ, in der Tiefe das ZANG-Organ abbilden. Dies scheint eine Fehlinterpretation der chinesischen Quellen darzustellen. Es würde nämlich bedeuten, daß man an jeder Pulsposition zwei von einander getrennte Pulse feststellen können müßte: Jeweils einen für den Zustand des FU bei leichter oberflächlicher Palpation und einen für den Zustand des ZANG in der Tiefe. Der Praktiker jedoch wird wissen, daß das nicht der Fall ist. Im Gegenteil wird immer wieder gefordert, der Puls sei je Position entweder oberflächlich, mittig oder tief maximal feststellbar und dort im weiteren in seinen Modalitäten zu bewerten. Hier besteht ein Widerspruch, der sich jedoch bei näherer Betrachtung auflöst. Porkert schreibt dazu, daß die jeweiligen FU nur dann in diagnostischen Betracht kommen, wenn „auf Grund auch der übrigen diagnostischen Befunde eine auffällige Störung ihrer Funktion unterstellt werden muß; sie können in der Regel an der genannten Stelle außer Ansatz bleiben.“ [10] Eine FU-Störung ist meist oberflächlicher und hat akuten Charakter. Eine ZANG-Störung ist meist chronisch, beziehungsweise hat sie sich aus einer chronischen Dysbalance entwickelt und ist symptomatisch weniger dramatisch, allerdings in ihren Konsequenzen für den Patienten schwerwiegender. Damit könnte man nun, immer noch mit den Worten `oberflächlich´ und `tief´ formulierend, sagen: Besteht eine `oberflächliche´, akute Erkrankung des FU wird man diese auch in den Pulsen lesen können, jedoch schon anhand anderer Befunde klar die Zuordnung der Pathologie zum FU feststellen. Handelt es sich jedoch um ein chronisches, symtomschwaches Geschehen, das in der `Tiefe´ der ZANG, also der YIN-Organe, seinen Ursprung hat, wird man es ebenso im Pulsbild finden. Dazu ein Beispiel: Ein Patient stellt sich mit akuten dysurischen Beschwerden, die er so noch nie hatte, vor. Findet man nun in der Nieren/Blasen-Position einen schnellen Puls (SHOU MAI), spricht dies für eingedrungene Hitze, ein tiefer, gespannter Puls (CHEN und XIAN MAI) spricht für eingedrungene Kälte. Ist der Puls allerdings schwach (XU MAI) raten sich Fragen nach Geschehnissen in der Vergangenheit an, die zu einer Schwächung der Nierenenergie geführt haben. Findet man den schwachen Puls ohne heftige Dysurie oder mit leichten dysurischen Beschwerden, an die sich der Patient häufig schon gewöhnt hat („Immer wenn ich kalte Füße habe, muß ich auf die Toilette, aber es kommt fast nichts. Aber das ist schon seit Jahren so und macht mir nichts aus“) kann man davon ausgehen, daß die Ursache in einer chronischen Schwäche der Niere liegt.

Li Shi-zhen ordnet beiden CHI-Pulsstellen die Niere zu. Einerseits stellt die Niere als Speicher der Essenz (JING) die Grundlage des Lebens und seiner Reproduktion dar. Andererseits birgt sie den Keim jeglicher Aktivität. Gleich einem großen Kessel speichert die Niere den Vorrat (YIN), auf den zurückgegriffen werden kann, wenn externe Ressourcen knapp werden. Allerdings ist sie auch der Ort, an dem übertragen gesehen stets eine kleine Initialflamme (YANG) brennt, mit Hilfe derer jedes Feuer, d.h. jede Aktivität, im Organismus entzündet wird. Die Niere hat zwar ein quantitativ kleines YANG, das in seiner Funktion jedoch für den Organismus von höchster Wichtigkeit ist. Deshalb unterscheidet die chinesische Medizin eine Wasser- oder YIN Niere und eine Feuer- oder YANG Niere. Nach gängiger Auffassung bildet sich nun die Wasser-Niere und damit die Speicherfunktion der Niere in der CHI-Position der linken Hand, die Feuer-Niere [11] und ihre initiative Funktion in der CHI-Position der rechten Hand ab.

Andere klassische Autoren [12] sehen in der CHI-Position der rechten Hand auch den SAN JIAO oder Dreifachen Erwärmer abgebildet. Dies erscheint logisch, bedenkt man die Tatsache, daß ein initiales Nieren-Feuer, um die Milz oder das Herz zünden zu können auf einen Zugang angewiesen ist. Diese Verbindung ist der Kreislauf der drei Erwärmer. Damit kann ein Symptom des geschwächten Nieren-YANG bedeuten, daß es de facto schwach ist. Das Symptom kann aber auch bedeuten, daß dem Nieren-YANG der Zugang zum restlichen Organismus unmöglich ist, weil eine Störung im SANJIAO vorliegt. Diese Sichtweise wird durch die Tatsache untermauert, daß der SAN JIAO SHU (Bl 22) in der Therapie bei Nieren-Yang / Nieren-Feuer Schwäche indiziert ist.

Ein völlig unzulässiger Schluß ist es meiner Meinung nach nun aber, auch das Pericard an dieser Pulstaststelle zu suchen, selbst wenn es, wohl infolge konfuzianischem Harmonie- und Symmetriedenkens der YIN-Partner des SAN JIAO ist. Hier ist es logisch, aufgrund der Funktion, die das Pericard in bezug auf das Herz hat,  Zhang Ji-bing [13] und Porkert zu folgen, und das Pericard an die CUN-Taststelle der linken Hand zum Herzen zu stellen. Porkert fordert bei Auffälligkeiten des dortigen Pulses eine genaue differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen Herz und Pericard [14] .

Die Pulsebenen

 Nachdem wir die Pulspositionen festgelegt haben, wenden wir uns nun kurz den Pulsebenen zu. Das Lumen der Arterie wird in der Chinesischen Medizin in drei Ebenen eingeteilt. Diese werden folgendermaßen benannt:

·        JU (chin.: Hochheben); oberste Ebene: Der palpierende Finger ruht locker auf der Haut.

·        XUN (chin.: Suchen); mittlere Ebene: Der palpierende Finger nimmt Kontakt mit den muskulären Partien auf.

·        AN (chin.: Pressen); tiefe Ebene: Der palpierende Finger sucht die Knochen und Sehnen [15].

In der Regel wird man den Puls in einer der drei Ebenen am stärksten und kontrastreichsten feststellen. Einerseits ist dies dann schon eine Pulsqualität (z.B. CHEN/Tief oder FU/oberflächlich), andererseits wird die Pulsqualität in dieser, den Puls am klarsten zeigenden Ebene, weiter zu differenzieren sein (z.B. HUA/schlüpfrig oder XIAN/ saitenförmig). Allerdings muß die Tatsachen mit einbezogen werden, an welcher Pulstaststelle die betreffende Pulsebene als maximale Pulsebene festgestellt wird. Erinnern wir uns dazu kurz an die Pulstaststellen. Diese sind den drei Erwärmern zugeordnet. Der obere Erwärmer bildet sich in der Taststelle CUN ab. Wir finden hier die Lunge an der rechten Hand, das Herz an der linken. Beide Organe werden dem oberen Erwärmer zugeordnet, in dem sie sich anatomisch auch befinden und sind innerhalb der YIN-Organe relatives YANG. Deshalb ist es physiologisch, wenn der Puls sich an den CUN-Taststellen bezüglich der Ebene ebenfalls im Yang-Bereich, also eher oberflächlich abbildet. Ein tendenziell oberflächlicher Puls an diesen Stellen ist damit normal. Für die Pulstastellen GUAN und CHI gilt Analoges. Auf GUAN (Milz/Leber) wird der physiologische Puls maximal in der Ebene XUN zu finden sein, auf der Pulstaststelle CHI (Niere) tendenziell tiefer liegen. [16] Betont werden muß allerdings die Tatsache, daß es sich bei den physiologischen Pulsen des oberen und unteren Erwärmers um eine Tendenz zur Oberfläche oder Tiefe handelt. Ein Lungen- oder Herzpuls muß, wenn er gesund ist, dennoch in allen Ebenen fühlbar sein, auch wenn sein Maximum an der Grenze der Ebene JU zu XUN liegt und damit eine Tendenz zur Oberflächlichkeit besitzt. Analog wird ein Nieren-Puls schon in den unteren Bereichen der oberflächlichen Ebene JU zu fühlen sein, sein Maximun jedoch wird er im Übergang von XUN zu AN erreichen.
Herbert Vater [17] schlägt vor, zur Veranschaulichung dieses auf den ersten Blick verwirrenden Sachverhaltes, die drei Ebenen nochmals in einer Feineinteilung zu dritteln. Damit ergeben sich 9 Ebenen. Ein physiologischer Puls des oberen Erwärmers wird dann die Ebenen 1 bis 7 füllen, die Pulse von Leber und Milz die Ebenen 2 bis 8 und schließlich die Nieren-Pulse die Ebenen 3 bis 9. Damit wäre einerseits der Vorgabe für einen gesunden Puls (Er muß auf allen drei Hauptebenen tastbar sein) genüge geleistet, andererseits wäre die physiologische Tendenz bestimmt und zum dritten ist ein pathologischer Puls definierbar, der eben mehr als eine Tendenz zur Oberfläche und Tiefe aufweist.

Die folgende Abbildung zeigt im linken kleinen Kreis die traditionelle Einteilung des Gefäßlumens in drei Ebenen. Der große Kreis zeigt die von Herbert Vater vorgeschlagene Einteilung in 9 Unterebenen. Der darin eingeschriebene graue Kreis zeigt das Beispiel der Tastbarkeit eines physiologische Nierenpulses in der Position CHI.

Textfeld: AN Textfeld: XUN Textfeld: JU

 

 


Textfeld: 1 2 3 4 5 6 7 8 9

 

 


Die Pulsebenen sind ein Beispiel für das relative Denken der chinesischen Medizin. Ein Puls wird demnach nicht als absolut zu tief (CHEN) oder zu oberflächlich (FU) bestimmt, sondern muß im Kontext mit der Pulstaststelle, an der er festgestellt wurde, bestimmt werden. So ist ein Pulsmaximum auf der Ebene XUN auf den Positionen der Milz und Leber physiologisch, auf den Positionen Lunge und Herz ist die Ebene XUN zu tief (CHEN) für das physiologische Pulsmaximum und auf der Nierenpositionen ist XUN dagegen zu oberflächlich (FU).

Im folgenden findet sich eine Einteilung der Pulsqualitäten bezüglich der Ebenen:

Oberflächliche Pulsqualitäten:

FU, HONG, GE, RU, RUAN, SAN

Tiefe Pulsqualitäten:

CHEN, LAO, RUO, FU(t) [18]



Pulsqualitäten, die keine definitive Zuordnung zu einer bestimmten Ebene besitzen, also auf jeder Ebene auftreten können:

CHI, SHOU, XU, HUA, SE, CHANG, DUAN, DA, WEI, JIN,HUAN, XIAN, XI, XIAO, DONG, CU, JIE, DAI, JI

Pulse die per definitionem alle Ebene ausfüllen:

SHI, KOU [19]

Im klinischen Zusammenhang werden den Ebenen besondere Aussagen zugeschrieben. Dabei ergibt sich ein gutes Beispiel für das analoge Denken der chinesischen Philosophie im allgemeinen und der Medizin Chinas im besonderen. Eine Tabelle [20] führt dies aus:

Ebene

JU

XUN

AN

Energie

QI

XUE

YIN

Körperebene

Körperoberfläche

Milz/Magen im Sinn von Mitte

Körperinneres

Organ

Herz/Lunge

Milz/Magen

Niere/Leber [21]

Pathologie

äußere Erkrankungen

Erkrankungen der Mitte

innere Erkrankungen

Das Procedere der Pulstastung

Der Patient soll während der Pulsnahme sitzen oder liegen. Wenn sich der Patient unmittelbar vor der Pulstastung aufgeregt oder angestrengt hat, gefroren hat oder gerade eine Mahlzeit zu sich genommen hat, wird dies die Ergebnisse verfälschen. Der Arm soll mit der Handfläche nach oben auf einer bequemen Unterlage auf Herzhöhe des Patienten ausgestreckt ruhen. Die Beine des Patienten wie des Behandlers sollen während der Pulstastung nicht über Kreuz geschlagen sein. Dies führt zu einer energetischen Vermischung der Körperhälften und damit zu einer Verfälschung der Ergebnisse [22] . Die Tastung selbst soll in großer Ruhe und Konzentration stattfinden. Schnorrenberger möchte die Tastung mindestens drei Minuten dauern lassen [23] . Bedenkt man jedoch die komplexen Schlußfolgerungen, die aus einer Pulstastung erarbeitet werden können und die dazu nötige differenzierte Erhebung der ca. 30 möglichen Qualitäten an sechs Positionen in drei Ebenen erscheint dies Vorgabe viel zu kurz. Mindestens zehn Minuten sind hier anzusetzen, in komplizierten Fällen kann die Erhebung aber auch 30 Minuten erfordern. Diese Vorgaben machen nun die Notwendigkeit einer bequemen Lagerung des Patienten, bzw. seiner Arme und einer ebensolchen Haltung des Behandlers verständlich.

Das SU WEN gibt auch einen besten Zeitpunkt für die Pulsnahme an. Es ist Mitternacht, also die Stunde, an der sich YIN und YANG kreuzen. Allerdings erkannte man schon damals, daß diese Zeit für die Praxis unrealistisch ist. „Der frühe Morgen (ist) ein guter Zeitpunkt (.). Zu dieser Zeit hat man noch nicht gearbeitet, das YIN-QI  ist noch nicht gestört, das YANG-QI hat sich noch nicht zerstreut. Man hat noch keine Nahrung zu sich genommen, die Energie in Leitbahnen und Nebenleitbahnen ist noch ausgeglichen, das Qi fließt regelmäßig, und der Fluß von Qi und Blut ist noch nicht gestört.“ [24] Zumindest für die Erstanamnese könnte diese Vorgabe von Nutzen sein und angewendet werden.

Das folgende Konzept zur Pulsnahme ist Maciocia [25] entlehnt. Der Anfänger wird es dankbar als Richtlinie annehmen, der erfahrene Behandler wird es nach seinen Prämissen modifizieren.

Zunächst ist der Puls als Ganzes an einer Hand zu nehmen. D.h. der Behandler wird seine Finger auf alle drei Positionen legen. Dabei empfiehlt es sich, stets nur mit einer `Fühlhand´ zu arbeiten und nicht abwechselnd die linke und rechte Hand einzusetzen, weil das sensorische Gedächtnis und die Erfahrung dann auf drei Finger konzentriert werden können. Die gleichzeitig-beidseitige Pulsnahme ist aus diesen Gründen abzulehnen, zumal sie erschwerend eine zusätzliche Differenzierung gleichzeitig ankommender sensorischer Reize erfordert. Daß der Behandler auf kurzgeschnitte, gepflegte Fingernägel zu achten hat, versteht sich von selbst. Ferner muß der Behandler um den Erhalt der Sensibilität seiner Pulsfinger bemüht sein. Mechanische Beanspruchung der eingesetzten Fingerkuppen ist strikt zu meiden.

Im weiteren wird der Behandler nun Pulsposition für Pulsposition im einzelnen erheben. Es ist anzuraten, stets nur einen Finger - und immer denselben je Position - aufzusetzen. Der einzelne Puls ist in seiner Ebene, seiner Stärke, seiner Geschwindigkeit und seiner Form zu beurteilen. Ferner ist zu prüfen, ob der Puls `Magen-QI´, `Geist-SHEN´ und eine `Wurzel-GEN´ hat. Zur genauen Erklärung dieser drei Begriffe sei auf das folgende Kapitel verwiesen.

Der physiologische Puls

Der Puls soll in seiner Gesamtheit aller Pulspositionen ein möglichst ausgeglichenes Bild vermitteln. Er soll über drei Kriterien verfügen. Dabei handelt es sich um die schon erwähnten Begriffe Puls `Magen-QI´, `Geist-SHEN´ und `Wurzel-GEN´. Diese Begriffe stammen aus dem klassischen Bereich der Chinesischen Medizin und werden heute nur noch selten verwendet. Sie spiegeln den Verwandlungszyklus von JING über QI in SHEN und umgekehrt wider.

Besitzt ein Puls diese Eigenschaften, so bezeichnet man das Pulsbild als übereinstimmendes oder günstiges Pulsbild (SHUN), fehlen sie, handelt es sich um ein entgegengesetzt (d.i. ein gegen die Heilung laufendes) Pulsbild (NI) [26] . Hat ein Puls in seiner Gesamtheit ein übereinstimmendes Pulsbild, sind Shen, Qi und Jing des Individuums in einem guten Zustand. `Schrägläufige´, pathologische Energie kann dann den Menschen zwar kurzfristig affektieren, wird aber keine ernste Gefahr bedeuten.

Die meisten Autoren [27] setzen die Pulsqualität HUAN mit dem gesunden Puls gleich. Dieser Puls ist definiert als ausgeglichener Puls zwischen YIN und YANG. Seine Übersetzung als `träger´ Puls ist in diesem Zusammenhang unglücklich gewählt, weil sie eine negative Konnotation besitzt. Besser erscheint die Übersetzung als `behäbiger´ Puls. Allerdings ist dieser Puls nur dann als Normalpuls zu betrachten, wenn er an allen Positionen erscheint, und der Patient keine Krankheitszeichen hat. Damit ist dieser Puls ein `Idealtypus´. Dies bedeutet, daß dieser Puls zwar theoretisch existiert, realiter jedoch nicht bei einem Patienten vorkommen wird, weil es in der Chinesischen Medizin auch den absolut gesunden Menschen nicht gibt [28] . In diesem Zusammenhang dient er also nur zur Sollbestimmung, die es dem Behandler ermöglicht, den palpierten Ist-Zustand vergleichend einzuordnen. Anders jedoch liegt der Fall, wenn der HUAN MAI nur an einer oder wenigen Pulspositionen erscheint. Dann kann er ein Zeichen für exogene Feuchtigkeit sein und ist deshalb als pathologisch zu werten. Laut Porkert ist der HUAN-Puls in der Rekonvaleszenz eines Patienten, der nach überstandener Krankheit durch eine Betonung der assimilierenden Erd- oder Mittenfunktion seine durch die Krankheit erschöpften Ressourcen wieder auffüllt, zu beobachten. Auch postpradial ist er feststellbar.

Ein weiterer Grund, warum man das Thema `gesunder Puls´ nicht auf den HUAN MAI reduzieren kann, ist die Tatsache, daß die Chinesische Medizin kein statisches System zuläßt. Alles geschieht in Zyklen. Diese Zyklen, sei es der Tag mit seinem Sonnenrhythmus oder das jahreszeitliche Spiel, sei es die Entwicklung einer Menschenexistenz vom Foetus bis zum Greis oder die kosmischen Zyklen des I GING, sie alle haben Auswirkungen auf das Erscheinungsbild des Pulses. So erklärt Qi Bo [29] in Kapitel 23 des SU WEN: „Unter normalen Bedingungen sollten die fünf Zang-Organe den vier Jahreszeiten entsprechende Pulse aufweisen. Der Leberpuls des Frühlings sollte drahtig (XIAN) sein; der Herzpuls des Sommers sollte überflutend (HONG), der Milzpuls des Spätsommers schlüpfrig (HUA), der Lungenpuls des Herbstes oberflächlich (FU) und der Nierenpuls des Winters sinkend (CHEN) sein“ [30] .
Der gute Diagnostiker wird deshalb bei seiner Pulsbewertung möglichst viele Zyklen und ihre Auswirkung auf den Augenblick der individuellen Pulsdiagnose berücksichtigen und sein Urteil davon leiten lassen.

Magen-QI des Pulses

Dazu sagt Qi Bo im 18.Kapitel des SU WEN: „Die Basis des gesunden Pulses ist der Magen. Der Puls reflektiert das Magen-Qi“ [31] . Der Puls hat, so er Magen-Qi [32] besitzt, eine sanfte, weiche, elastische und ruhige Qualität bei einer Frequenz von vier Schlägen pro Atemzug. Mit anderen Worten ist der Puls frei von Extremen, er ist harmonisch, gemäßigt und geordnet.

Die Quelle des Lebens und - im Falle einer Krankheit - der Gesundung ist die Fähigkeit der Mitte, also des Magens und der Milz, Gu-Qi (NahrungsQI als Quelle des nachgeburtlichen QI) aus der Nahrung zu gewinnen. Wenn der Magen kein Qi besitzt, verliert die Mitte die Fähigkeit, Nahrung zur Assimilierung aufzuschlüsseln, d.h. im chinesischen Terminus `das Klare vom Trüben zu scheiden´. Damit ist der Mensch bei fehlendem Magen-Qi von der Ressource der Heilung abgeschnitten und muß, was einerseits nur begrenzt möglich ist und andererseits weiter schwächend wirkt, die Energie zur Herstellung des physiologischen Gleichgewichts aus dem YUAN-QI (vorgeburtliches Qi), also seinem JING entnehmen.

Das Vorhandensein von `Magen-Qi´, das laut Schnorrenberger am besten in der Position `CHI´ zu tasten ist, sagt deshalb etwas über die Prognose der Erkrankung beim jeweiligen Patienten aus. Ist es vorhanden, ist die Prognose gut, fehlt es, ist sie schlecht. [33]

Geist-SHEN des Pulses

Hier handelt es sich um das Vorhandensein von Herz-QI und Herz-Blut. Ist es ausreichend vorhanden, wird der Puls Stärke besitzen, ohne dabei die Qualität der Weichheit zu verlieren. Er wird eine mittlere Größe und eine Regelmäßigkeit vorweisen, wobei die Regelmäßigkeit auch darin besteht, daß der Puls sein Erscheinungsbild von Erhebung zu Erhebung nicht leicht und häufig ändert. Diese Eigenschaft ist kongruent zum gesamten SHEN des Patienten, das sich z.B. in klarer Rede und einem ungetrübten Blick ausdrückt.

Wurzel-GEN des Pulses

Der Puls hat eine Wurzel, wenn die tiefe Ebene und die proximale Position gut getastet werden können. Dann ist eine gesunde, starke Niere zu konstatieren. Hier besteht eine Kongruenz zum JING, also der ererbten Lebensenergie des Patienten als Quelle seiner Existenz. In einem neuzeitlichen chinesisch-vietnamesischen Werk, dem DONG Y DUOC ist dazu zu lesen: „Wenn trotz des Fehlens des CUN und des GUAN-Pulses der CHI-Puls ungestört ist, bleibt die Prognose gut.“ [34]

Besprechung von sechs Grundpulsarten

In diesem Abschnitt sollen sechs Pulse besprochen werden. Es handelt sich dabei um den SHOU MAI (schneller Puls) und den CHI MAI (langsamer Puls), den SHI MAI (voller Puls) und den XU MAI (leerer Puls), sowie um den FU MAI (oberflächlicher Puls) und den CHEN MAI (tiefer Puls). Diese Pulse erfüllen mehrere Voraussetzungen, die ihre Herausstellung als `Grundpulse´ rechtfertigen. Erstens stellen sie in ihrer Aussage drei Gegensatzpaare dar. Jedes der Gegensatzpaare beschreiben zum zweiten quantitative Extreme je einer Qualität des Pulses. Ist es bei SHI und XU MAI die Kraft, so ist es bei SHOU und CHI MAI die Geschwindigkeit und bei FU und CHEN MAI die Ebene. Damit sind die Paare auch untereinander klar abgrenzbar. Besonders der Anfänger wird angesichts der so fein differenzierten Pulslehre der Traditionellen Chinesischen Medizin über diese Pulskategorien einen leichteren Einstieg in die Pulsdiagnose finden; und was vielleicht noch wichtiger ist, erste diagnostisch verwertbare Aussagen zur Situation seines Patienten gewinnen. Dabei ist für den schulmedizinisch vorgebildeten Anfänger sicherlich von Vorteil, daß diese Pulskriterien auch in der modernen westlichen Medizin zur diagnostischen Erfahrung gehören.

Desweiteren lassen sich diese Pulse auch klar dem wichtigsten Leitkriterium der Chinesischen Medizin zuordnen. Dieses grundsätzliche Leitkriterium ist die Lehre von YIN und YANG. Je ein Puls pro Paarung ist klar als YANG-Puls (SHOU, FU und SHI MAI), der andere ist als `YIN´-Puls (CHI, CHEN und XU MAI) definiert. Dem Leser wird auffallen, daß das Wort `YIN´ in diesem Zusammenhang in Anführungsstriche gesetzt wurde, während YANG ohne selbige auskommt. Dies drückt die Tatsache aus, daß der Puls an sich einen energetischen Sachverhalt beschreibt. Energie ist in der Chinesischen Medizin YANG. Damit ist jeder Puls Ausdruck des YANG. Ist ein Puls jedoch leer, tief oder langsam, also XU, CHEN oder CHI zeigt dies erst einmal ein schwaches, Porkert würde sagen ein relativ zum YIN depletes YANG an. Dies läßt den Schluß zu, daß der Antagonist des YANG - das YIN - dazu im relativen Übermaß vorhanden ist, der Puls also ein relatives Zuviel an YIN repräsentiert [35] .

Die Fülle und Leere des Pulses – XU MAI und SHI MAI

Aus schulmedizinischer Sicht handelt es sich bei dem, was die Chinesen als Fülle oder Leere des Pulses ansehen um den physikalischen Begriff der Energie der Pulswelle. Die Energie spiegelt sich im maximalen, systolischen Blutdruck.

Diese auf den ersten Blick sehr klare Tatsache muß stets bei der Pulsnahme beachtet werden, weil der Palpationsfinger immer einen Gesamteindruck fühlt. Das Blutdruckmessgerät, das schulmedizinisch zur Messung herangezogen wird, definiert die Maximalenergie der Pulswelle klar als Wert. Ebenso stellt es die Minimalenergie fest. Die Differenz von beiden Werten ist die Pulswellenamplitude, also der Schwung oder die Weiträumigkeit der Pulswelle. Ein Fehler tritt hier nur auf, wenn man das Gerät nicht beherrscht oder nicht rechnen kann.
Anders verhält es sich bei der Pulsnahme mit dem Finger. Zu leicht passiert es gerade dem Anfänger, daß er eine große oder kleine Amplitude der Pulswelle als Fülle bzw. Leere des Pulses interpretiert. Das wäre dann eine Fehldiagnose.

XU MAI

Nomenklatur: XU (Wade Gilles: HSÜ) [36] bedeutet im Chinesischen Mangel, Schwäche oder Leere. Wir finden diesen Ausdruck auch in Syndromnamen wie z.B. PI-QI-XU, also dem Milz-Qi-Mangel. Porkert [37] nennt diesen Puls deplet [38] ( energetisch schwach) oder inanis [39] (erschöpft).  Im Vietnamesischen heißt er HU. In deutscher Übersetzung wird er meist mit `leer´ bezeichnet.

Qualifikation: YIN

Beschreibung [40]

Ein gesunder Puls füllt alle Ebenen des Gefäßlumens, ist jedoch auf einer bestimmten Ebene besonders deutlich tastbar. Wird dieser Puls nun energetisch schwächer, kann er auf seiner angestammten Ebene immer noch wahrgenommen werden, auf anderen Ebenen jedoch ist er nicht mehr fühlbar. Diese Ebenen sind dann leer. Damit ist der XU MAI definiert als Puls, der nicht alle drei Ebenen der Pulstastung ausfüllt und bei Zu- oder Abnahme des Palpationsdruckes verschwindet. Die Energie der Pulswelle kann dem Fingerdruck nichts entgegensetzen – er wirkt also kraftlos und weich.

Wir kennen auch andere Pulse, die diese Eigenschaften besitzen. Zunächst wäre hier der RU MAI [41] den Porkert als nachgiebig, Maciocia als sanft, van Nghi als weich und Kaptchuk als zerfließend [42] übersetzt. Dieser Puls ist jedoch weicher als der XU MAI und zudem fein, d.h. in seiner horizontalen Ausdehnung begrenzt. Der XU MAI macht einen breiten Eindruck.

Ein weiterer Puls dieser Kategorie ist der RUO MAI, den Porkert als kraftlos und schwach, van Nghi als matt, Maciocia als schwächlich übersetzt [43] . XU und RU MAI sind eher oberflächlich, der RUO MAI jedoch, der ansonsten mit dem RU MAI identisch ist, findet sich nur in der Tiefe. Wieder ist die Unterscheidung zum XU MAI die Breite des Pulses.

Der SAN MAI [44] wird allgemein als zerfließend übersetzt, Kaptchuk allerdings nennt ihn auflösend und zerstreut. Er grenzt sich von den obengenannten durch eine Zerbrochenheit und Unregelmäßigkeit aus. Damit kann er klar vom XU MAI abgegrenzt werden.

Ein weiterer Yin-Puls ist der feine, dünne Puls, der XI MAI [45] , der sich vom XU MAI hauptsächlich darin unterscheidet, daß er auf allen Ebenen palpierbar ist.

Eine Steigerung des XI MAI ist der XIAO MAI [46] . Dieser ist noch feiner und noch dünner. XI wie XIAO MAI sind also Pulse, deren Wesen in einer kleinen Amplitude der Pulswelle liegt. Über die Energie der Pulswelle machen beide keine direkte Aussage, auch wenn es wahrscheinlich ist, daß ein feiner Puls auch energetisch nicht der stärkste ist. In diesem Fall handelt es sich dann um einen XI MAI (Amplitude klein) mit einer Tendenz zum XU MAI (Energie schwach), also zur Leere.

Der XU MAI kann bei leichtem, oberflächlichem Aufsetzen des Palpationsfingers zunächst den Eindruck hinterlassen, groß [47] oder oberflächlich [48] zu sein. Ein wirklich großer Puls (DA MAI) würde aber auch auf anderen Ebenen und sogar darüber hinaus tastbar sein. Ein oberflächlicher Puls (FU MAI) andererseits nimmt zwar in der Tiefe ab, wird aber weder leer oder noch verschwindet er.

Bewertung

 Die Autoren sind sich in der pathologischen Bewertung des XU MAI einig. Dieser Puls drückt einen Mangel aus. Der Mangel bezieht sich auf das QI und/oder das Blut. Der Organismus des Patienten ist erschöpft. Das Qi ist zu schwach, um das Blut zu bewegen, und das Blut reicht nicht aus, die Gefäße zu füllen. Dieser Puls hat eine Affinität zur Milz, die ihrerseits zum Qi-Mangel neigt. Die vermeintliche `Größe´ des Pulses entsteht, weil das Qi nicht mehr in der Lage ist, das Blut zu leiten, d.h. zu kontrollieren. Hier erkennen wir, daß selbst der XU MAI als differenziertes Pulsbild in sich moduliert sein kann, je nachdem, ob der Blutmangel oder der Qi-Mangel im Mittelpunkt des pathologischen Geschehens stehen. Ist es der Blutmangel, wird die Leere und Weichheit des Pulses mehr im Vordergrund stehen. Bei Qi-Mangel hingegen ist es die Kraftlosigkeit und wie oben schon erwähnt der trügerische Eindruck der Größe und der Oberflächlichkeit, die den XU MAI kennzeichnen.
Auch die Geschwindigkeit des XU MAI verrät uns, ob es sich mehr um einem Blut- oder Qi-Mangel handelt. Ein schneller XU MAI zeigt ein relatives Übermaß an YANG, also einen YIN-Mangel und damit einen Blut-Mangel an. Umgekehrt deutet ein langsamer XU MAI auf einen YANG- und damit QI-Mangel.

Eine weitere mögliche Ursache für einen XU Mai ist der äußere pathogene Faktor `Hitze´ oder `Sommerhitze´. Diese Ansicht vertreten explizit Van Nghi und Kaptchuk. Auf den ersten Blick erscheint es ein langer Weg von einem Mangelsyndrom, wie oben beschrieben, zu äußerer Hitze. Beinahe zu lang, als daß beide Pathologien denselben Pulstypus hervorrufen könnten. Und hat man nicht gelernt, daß eine Hitzeerkrankung genau das antagonistische Pulsbild zum XU MAI, den im nächsten Kapitel zu beschreibenden SHI MAI, hervorruft? In der Regel mag dies stimmen, aber überlegt man sich, was passiert, wenn der äußere pathologische Faktor `Hitze´ auf einen schon geschwächten Organismus trifft, wird die Sache erklärbar. Nehmen wir einen dürftig trainierten Fernsehsesselsportler mit viel Schleim um den DAI MAI (chronische PI QI XU / Milz Qi Schwäche), der im Kanarenurlaub meint, seinem Urlaubsflirt (XIN HUO/ Herz Feuer) mit einem Standvolleyballspiel in der prallen Sonne (SHU/ Hitze) imponieren zu müssen. Dieser Mann hat die Nacht in der Disko verbracht (YIN XU/ Yin Schwäche), begegnet seiner leichten Urlaubsdiarrhoe (akute PI QI XU/ Milz Qi Schwäche) mit Alkoholika (toxische Hitze) und hat gerade eben beim All inclusiv - Mittagsmenue (PI XU/ Milz Schwäche) versucht, möglichst viel für sein Geld zu bekommen. Er kollabiert schweißgebadet und hat einen sehr weichen XU MAI, denn zum SHI MAI reicht es beim besten Willen des WEI QI gar nicht mehr.

Was wir nämlich am Puls feststellen, ist nicht der pathogene Faktor, also die eingedrungene Sommerhitze an sich, die in unserem Fall zweifellos schnell ausgeleitet werden muß, sondern die Reaktion des ohnehin schon sehr geschwächten WEI-QI auf die Attacke der Sommerhitze, die in diesem Fall mehr oder weniger offene Türen einrennt.

SHI MAI

Nomenklatur: SHI (Wade Gilles: SHIH) bedeutet im Chinesischen Fülle, Üppigkeit oder Übermaß und stellt das Gegenteil zu XU, der Leere dar. Porkert nennt diesen Puls lateinisch pulsus repletus [49] . Im Vietnamesischen heißt er THUC und in deutscher Übersetzung wird er als `voll´ bezeichnet.      

Qualifikation: YANG

Beschreibung

Der SHI MAI füllt alle Ebenen des Arterienlumens. Jedoch kann sein Maximum dennoch einer Ebene zugeordnet werden. Damit ist es möglich, daß er nach FU – oberflächlich –  oder CHEN  – tief – moduliert ist. Ebenso ist es möglich, daß er in Kombination mit den Qualitäten SHOU – schnell – oder CHI – langsam – auftritt. Sein Hauptcharakteristikum ist die Tatsache, daß dieser Puls durch den Druck des Palpationsfingers nicht abdrückbar ist. Nach Herbert Vater ist der SHI MAI der einzige Puls, der sich nicht abdrücken läßt, und deshalb sei er sehr klar festzustellen und zu definieren [50] . Nun macht die Annahme, daß ein festaufgepreßter Finger die Pulswelle der Radialisarterie im Falle eines SHI MAI nicht abdrücken können soll, wundern. Natürlich ist das Arterienlumen auch bei `vollstem´ SHI MAI abdrückbar, wenn, ja wenn die Arterie gegen eine feste Unterlage komprimiert würde. Genau dies ist aber bei der Radialisarterie nicht der Fall, weil sie eben nicht genau gegen den radius gepreßt wird, sondern dem Palpationsdruck in das umliegende Gewebe und unter Sehnenzüge `ausweichen´ kann. Damit kann es sein, daß ein Puls, der kräftiger ist als der Druck, den ihm das umliegende Gewebe entgegensetzen kann, auch bei sehr starkem Palpationsdruck des Fingers des Untersuchers immer noch fühlbar ist.

Desweiteren wird der SHI MAI als hart, lang, breit und groß beschrieben. Damit beinhaltet er die Pulsqualitäten CHANG – lang – und DA – groß. Vom CHANG MAI unterscheidet er sich sehr deutlich, weil jener eben nicht `groß´ ist. Dem DA MAI hingegen ist er sehr ähnlich, denn er teilt mit den SHI MAI neben der Größe auch die Eigenschaften `breit´ und `lang´. Hier wird die Unterdrückbarkeit zum Unterscheidungskriterium, und man könnte sagen, der SHI MAI sei eben ein nicht unterdrückbarer DA MAI und damit dessen Steigerung. Diese These bestätigt sich überdies in der pathologischen Bedeutung der beiden Pulse. Wieder treffen wir hier auf die notwendige Unterscheidung zwischen Energie und Amplitude der Pulswelle. Ein SHI MAI bezeichnet einen Puls mit einer hohen Energie, die sekundär auch eine große Amplitude nach sich zieht. Der DA MAI indes besitzt nur die große Amplitude, ohne notwendigerweise auch eine besonders große Energie aufzuweisen.

Der SHI MAI kann in Kombination mit den Eigenschaften HUA – schlüpfrig – und JIN – gespannt – auftreten. Allerdings bezeichnen beide Eigenschaften ein YANG im YIN, während der SHI MAI ein reiner YANG-Puls ist. Die Kombination mit der reinen YANG-Eigenschaft  XIAN – saitenförmig – wird eher auftreten. Unwahrscheinlich erscheint die Kombination mit SE – rauh – als reiner YIN-Eigenschaft. Ist ein SHI MAI unregelmäßig, wird er es als Fülle-Puls wohl in der Qualität CU – jagend – sein, wenn es sich um eine YANG-Fülle, also Hitze handelt. Bei Kälte-Fülle hingegen wird er die Unregelmäßigkeit des JIE – hängend – besitzen [51] . Eine Unregelmäßigkeit im Sinne von DAI – unterbrochen – dürfte es nicht geben, da der DAI MAI als YIN-Puls eine große Leere ausdrückt.

Der SHI MAI kann nach Porkert [52] überdies durch die Qualität DONG – beweglich – ergänzt werden, muß dann jedoch zugleich HUA – schlüpfrig – und SHOU – schnell – sein [53] .

Bewertung

Der SHI MAI kennzeichnet einen Fülle-Zustand. Die Fülle wird meist durch einen äußeren pathogenen Faktor bedingt, und hier ist es die Hitze, die von den Autoren in den Vordergrund gestellt wird, obwohl auch eine Kälte-Fülle [54] nicht ausgeschlossen scheint. Wie schon weiter oben angemerkt ist es die Geschwindigkeit des SHI MAI, die zwischen Kälte (langsam) und Hitze (schnell) unterscheiden läßt. Schnorrenberger [55] merkt an, daß ein SHI MAI immer auch ein starkes WEI QI konstatiert, das einem eingedrungenen pathogenen Faktor entgegensteht.

Kaptchuk [56] bemerkt, daß dieser Puls auch auf dem Boden eines Mangels bzw. einer Leere auftreten kann und beruft sich bei dieser Aussage auf klassische chinesische Ärzte wie Zhang Zhong-jing [57] oder Zhang Jie-bing [58] . Der SHI MAI wird jedoch nur bei den stärksten Mangelzuständen auftreten. Er widerspricht damit allen anderen diagnostischen Zeichen, die ihrerseits auf einen Mangel hindeuten und gaukelt Fülle vor. Ein Pulsbild, das nicht mit den anderen Befunden in Einklang steht, heißt NI [59] und ist dem chinesischen Arzt ein Zeichen für die ungünstige Prognose der Erkrankung.

Allerdings muß der SHI MAI nicht immer mit einem äußeren pathogenen Faktor in Verbindung gebracht werden. Auf der Leberposition ist ebenso an `Leberfeuer´ und an der Feuernieren- oder SAN JIAO Position an gegenläufiges Feuer [60] zu denken

 Die Geschwindigkeit des Pulses – SHOU MAI und CHI MAI

Zur Geschwindigkeit des Pulsschlages muß aus chinesischer Sicht einiges gesagt werden, gerade weil die Geschwindigkeit oder Frequenz auch in der schulmedizinischen Diagnostik ein wichtiges Kriterium ist. Aus physikalischer Sicht erscheint es dem westlich vorgebildeten Schüler der Chinesischen Medizin zunächst unbegreiflich, daß ein Puls an unterschiedlichen Taststellen auch unterschiedliche Geschwindigkeiten besitzen kann, wie es nicht wenige Praktiker der chinesischen Pulstastung behaupten [61] . Zunächst möchte man meinen, alle am Körper zu fühlenden Pulse wären eine Abbildung des schlagenden Herzens, und dieses könne nunmal nicht gleichzeitig mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten schlagen. Dieser Gedankengang führte jedoch folgerichtig auch zu der Konsequenz, daß die Forderung einer einheitlichen Pulsgeschwindigkeit auch auf alle anderen Quantitäten und Qualitäten der Pulswelle auszudehnen wäre. Weitergedacht würde damit jede unterscheidende Pulsanalyse ad absurdum geführt. Der Puls würde, egal an welcher Stelle erhoben, nur den Zustand des Herzen und des Aortenbogens, mit der für den Puls wichtigen `Windkesselfunktion´, abbilden. Bestenfalls würde er noch eine Blockade im Leitungssystem vom Herzen zur jeweiligen Taststelle dokumentieren. Und in der Tat, die Schulmedizin läßt den Puls auch nur in dieser Sichtweise als diagnostisches Kriterium gelten. Hier finden wir ein gutes Beispiel für das Aufeinandertreffen des traditionell chinesischen Paradigmas eines Holismus und der cartesianisch-reduktionistischen Betrachtungsweite unserer westlichen Wissenschaftstradition, das an dieser Stelle Gegenstand eines Exkurses sein soll.

Exkurs: Gegenüberstellung der wissenschaftlichen Paradigmen der traditionellen chinesischen und der neuzeitlich westlichen Wissenschaftskultur

In vorwissenschaftlicher Zeit war der Mensch eingebettet in die ihn umgebende Natur und erlebte sich als einbegriffener Teil. Eine Trennung von der Natur erschien ihm unmöglich ohne die Konsequenz der Vernichtung seiner Existenz.

Als der Mensch der westlichen Antike jedoch zusehends sein Bewußtsein benützte, um die Phänomene der Natur in eine für ihn intelligible Ordnung zu setzten, vermutete er sein `Getrenntsein´ von der Natur. Es blitzte eben nicht, weil die Natur personifiziert in Göttern ihm oder seiner Gesellschaft erzürnt waren, und die Genesung seiner Kinder war eben nicht Gnade der Götter oder Dank für erbrachte Opfer. Der Mensch begann die Natur zu erforschen. Dazu war er gezwungen, sie zu objektivieren, d.h. mit Galileo Galilei gesprochen, alles zu messen, und das Nichtmeßbare meßbar zu machen. Am Beginn der Neuzeit, in der Renaissance, wurden die Ansätze antiken Denkens nach einem dunklen Mittelalter wieder entdeckt und fortgeführt. Später war es dann Descartes (1596-1650), der ein rationalistisch-reduktionistisches Wissenschaftsbild, eben das cartesianische Paradigma auf dem Fundament antik-griechischer Philosophie begründete. Es fordert die Zerlegung der Natur in alle Einzelteile. Diese Einzelteile sollten dann vollständig `vermessen´ und danach wieder zusammengesetzt werden. Dieses Procedere versprach die Erkenntnis der Gesamtheit durch Kenntnis ihrer Teile. Die Menschheit hatte in den folgenden 400 Jahren großen Erfolg im Zerlegen, Vermessen und Zusammensetzen. Auch die moderne wissenschaftliche Medizin, deren Ursprung ebenfalls im 17. Jahrhundert liegt, verdankt dieser Methode ihre größten Kenntnisse und Erfolge. Allerdings war die Kehrseite dieser Entwicklung auch eine weiter fortschreitende Trennungsfiktion des Menschen von der Natur. Noch bis in die 50er Jahre unseres Jahrhunderts glaubte der wissenschaftlich denkende Mensch, es sei nur eine Frage der Zeit, bis dereinst alles erforscht und damit natürlich auch beherrschbar sei. Dann wäre die Anweisung des christlichen Glaubens `Mach Dir die Erde Untertan´ eingelöst und das Paradies wiedergefunden. Heute beginnt der Mensch zu begreifen, daß er eben doch nicht getrennt von der Natur ist und merkt angesichts von Umweltzerstörung und Ressourcenverknappung, daß er sein Weltbild modifizieren muß. Die Popularität östlicher Philosophie und ihrer Medizin ist wohl dieser Erkenntnis zu verdanken.

In China indes wurde ein anderer Weg beschritten. Aus der daoistischen Tradition heraus blieb das Paradigma des vorwissenschaftlichen Menschen, das man als genuin holistisch [62] bezeichnen kann, bestehen. Immer fühlte der Mensch sich eingebunden in das DAO. Holismus stellt eine biologisch-philosophische Ganzheitlehre dar, in der ein Teil in untrennbarer Verknüpfung zu allen anderen Teilen und der Gesamtheit existiert. Eine Trennung vernichtet das Teil kurzfristig und leidvoll und gefährdet auf lange Sicht auch die Existenz der Gesamtheit. Will man mehr über diese Gesamtheit erfahren, reicht es aus, einen Teil genau zu betrachten, weil er immer, wenn auch undeutlich und verschwommen die vollständige Information über die Gesamtheit enthält. Ein gutes Beispiel hierfür ist die heute sehr beliebte holographische Photographie durch einen Laserstrahl. Das so produzierte Bild ist die Gesamtheit. Nehmen wir an ein, Mensch wurde photographiert. Wir nehmen eine Schere und schneiden sein Bein aus. Man würde nun erwarten, der Ausschnitt zeige jetzt das abgeschnittene Bein, aber dem ist nicht so. Er bildet wieder das Bild des gesamten Menschen ab, wenn auch etwas verschwommen und unscharf. Diese neue Technik demonstriert heute dem westlichen Menschen sehr anschaulich eine Alternative zu seiner Methode des wissenschaftlichen `Puzzlespiels´ auf, bei der ein abgeschnittenes Bein eben nur Informationen über diese Bein zuläßt und bestenfalls Spekulationen über die Gesamtheit.

Zurück zu unserem Thema, sehen wir jetzt den Unterschied westlich-schulmedizinischer und traditionell chinesischer Pulstastung. Wo der westliche Arzt die Pulswelle als Puzzle-Ausschnitt des Patienten sieht, der nur das Herz und seine angrenzenden Gefäße zeigt, wird er auch nicht mehr sehen können als Frequenz, Stärke und Amplitude des Herzschlages und die Qualität der Leitungsverbindungen zur Pulstaststelle. Er wird weiter konstatieren, daß es einerlei sei, an welcher Pulstaststelle er diese Informationen erhält und sich deshalb die Stelle aussuchen, die ihm und seinen Meßgeräten am einfachsten zugänglich ist. Trifft er dennoch zufällig doch auf widersprüchliche Werte an unterschiedlichen Stellen, wird er sein mechanistisches Erklärungswerkzeug benützen, um sie beispielsweise einer Stenose der arteria axillaris oder einer Gewebeanomalie einer besonderen Pulstaststelle zuschreiben.

Anders der traditionell-chinesische Arzt. Er wird annehmen, daß sich die gesamte Situation des Patienten in jedem Ausschnitt widerspiegelt. In unserem Fall sind es die sechs Radialispulstaststellen. In diesem Ausschnitt wird er dann undeutlich aber vollständig alle Informationen erhalten. Sie richtig zu deuten, wird er auf den empirischen Wissensschatz seiner Tradition vertrauen, die seit Jahrhunderten diese holistischen Informationen ausgewertet hat und sie mit Aussagen anderer Ausschnittsbetrachtungen (z.B. Zungenbild) abgleichen. Unterschiedliche Geschwindigkeiten an unterschiedlichen Pulstaststellen wird er kritiklos hinnehmen und nicht mechanisch zu erklären versuchen, weil sie ihm aus seiner holistischen Sichtweise als logisch-konsequente Folge unterschiedlicher Zustände in verschiedenen Regionen der Gesamtheit `Patient´ erscheinen.

Wie zu sehen ist, sind beide Systeme in sich logisch kohärent, welches jedoch das bessere oder sogar das richtige ist, ist bis zum heutigen Tage eine Glaubensfrage. Der dazugehörige Glaubenskrieg wird von Adepten beider Lager zur genüge geführt und ist wie jeder Krieg sinnlos, weil jedes Lager mit seinen eigenen Prämissen die jeweils andere Sichtweise zu kritisieren für möglich hält. Ein Credo, daß abschließend der Unlogik dieses Disputes die Krone aufsetzt.

SHOU MAI

Nomenklatur: SHOU  (Wade Gilles: SCHU) bedeutet im Chinesischen `schnell´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus celer [63] . Im Vietnamesischen wird er SAC genannt und im Deutschen meist mit `schnell´ [64] übersetzt.

Qualifikation: Yang

Beschreibung

Der SHOU MAI hat eine sehr klare Definition. Fast alle Autoren bezeichnen ihn mit einer Frequenz von mehr als fünf Schlägen pro Atemzug [65] . Ein Atemzug gilt vom Beginn des Einatmens bis zum Ende des Ausatmens. Unklar bleibt jedoch, ob dieser Atemzug der des Patienten oder der des Behandlers sein soll. Vor allem klassische Texte, aber auch einige neuzeitliche Autoren geben hier den Atemzug des Behandlers als Maß an. Vorgabe dabei ist, daß der Therapeut vollständig gesund ist. Dennoch erscheint es widersinnig, da man, folgt man dieser Vorgabe, die Relativität Atem- /Herzfrequenz nicht beachtet. Pathologisch `schnell´ ist nach Herbert Vater [66] nämlich nicht der absolut beschleunigte Puls, also beispielsweise ein Puls von 90 Schlägen in der Minute, sondern nur der, der relativ zur Atemfrequenz des Patienten beschleunigt ist. Deshalb darf man die tatsächliche Atemfrequenz des Patienten eben nicht mit einer idealtypischen Atemfrequenz des gesunden Behandlers gleichsetzen [67] . Dennoch ist es verständlich, wenn man versucht ist, als Behandler die eigene Atemfrequenz der Pulsdiagnose zugrunde zu legen, weil es vielfach sehr schwer ist, die Atemfrequenz des Patienten zu ermitteln. Viele Patienten atmen sehr `subtil´, und dicke Kleidung macht es oft unmöglich, ein Heben und Senken des Brustkorbes zu beobachten. Auch läuft man Gefahr, mißverstanden zu werden, wenn man einer Patientin angestrengt und penetrant auf den Ausschnitt starrt. Andererseits wäre es fatal, dem Patienten zu sagen, man beachte seine Atmung, denn schon würde dieser selbst auf seine Atmung achten und sie verändern. Daß man den Patienten auffordert, seine Atmung etwas deutlicher zum Ausdruck zu bringen, verbietet sich von selbst. Meiner Erfahrung nach ist es ein probates Mittel, in den ersten Minuten der Pulserhebung genau auf die Körpersilhouette oberhalb des Schlüsselbeines des Patienten zu achten. Der Patient wird meinen, man schaue an ihm vorbei ins Leere, um sich auf die Pulserhebung zu konzentrieren. Jetzt ist es möglich, sich mit seiner eigenen Atmung auf die des Patienten einzustellen und fürderhin diese als Meßparameter zu verwenden.

Bewertung

Ein SHOU MAI deutet auf  eine Hitze-Pathologie. Hitze beschleunigt generell die Bewegung des Blutes und stellt eine Fülle des YANG dar. Das grundlegende Prinzip der chinesischen Weltbetrachtung und damit auch ihrer Medizin ist die Lehre von YIN und YANG. Demnach teilte sich das `All-Eine´, chinesisch das DAO in zwei polare, aber dennoch sich gegenseitig bedingende und kontrollierende Antagonisten - das struktive YIN und das dynamische YANG. In der Chinesischen Medizin gilt ein Mensch dann als gesund, wenn beide Anteile in einem ausgewogene Verhältnis zueinander stehen.

Finden wir also einen SHOU MAI bei einem Patienten, wissen wir, daß bei ihm ein Zuviel an YANG vorhanden ist. Wir wissen aber noch nicht, ob es sich um einen absoluten oder einen relativen YANG-Überschuß handelt. Dazu sind weitere Informationen notwendig, die uns neben den anderen diagnostischen Verfahren auch ein genaueres Betrachten unseres SHOU MAI liefern können. Ist der Puls nämlich zudem `voll´, also ein SHI MAI, müssen wir von einem akuten Angriff des äußeren pathogenen Faktors `Hitze´ ausgehen. Sowohl die Qualitäten SHOU wie auch SHI sind als YANG eingestuft. Äußere Hitze und damit YANG sind in den Körper des Patienten eingedrungen und dessen WEI QI, seine Abwehrkraft und ebenfalls YANG, bemüht sich, die Hitze wieder aus dem Organismus heraus zu drängen. Es herrscht also ein absoluter Überschuß an YANG.

Ein anderer Sachverhalt liegt vor, wenn der SHOU MAI mit einem XU MAI vergesellschaftet ist. Hier haben wir nun die YANG-Qualität `schnell´ auf dem Boden der YIN-Qualität `leer´. Die Kausa der vorliegenden Pathologie wird also eine Schwäche des YIN im Organismus des Patienten sein. Das YIN ist zu schwach, das körpereigene YANG zu binden und zu kontrollieren. Die Schnelligkeit des Pulses ist also inneres YANG. Dieses unkontrollierte, innere Yang, bezeichnet die Chinesische Medizin als `innere´, `falsche´ oder `leere´ Hitze [68] . Fast immer handelt es sich hier um ein chronisches Krankheitsgeschehen [69] .

In sehr seltenen lebensbedrohlichen Fällen kann ein SHOU MAI jedoch paradoxerweise auch einen extremen YANG-Mangel anzeigen. Der Puls ist dann zusätzlich sehr XU - `leer´  und FU - `oberflächlich´. Ein sehr geschwächtes YANG wird hier von einem übermächtigen YIN verdrängt und treibt quasi auf der Oberfläche. Diesen Zustand werden wir beispielsweise bei einem stark unterkühlten (Kälte = YIN) Menschen vorfinden, bei dem die Trennung von YIN und YANG, also der Tod unmittelbar bevorsteht.

 CHI MAI

Nomenklatur: CHI  (Wade Gilles: CHICH) bedeutet im Chinesischen `langsam´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus tardus [70] . Im Vietnamesischen wird er TRI genannt und im Deutschen meist mit `langsam´ übersetzt.

Qualifikation: YIN

Beschreibung

Auch dieser Puls hat als Antagonist zum SHOU MAI eine sehr klare Definition. Er ist ein Pulsbild mit weniger als vier Schlägen pro Atemzug . Im übrigen gilt hier Gleiches wie im Kapitel Beschreibung des SHOU MAI, dessen Lektüre dem selektiven Leser an dieser Stelle nicht erspart werden kann, ohne andere mit unnötiger Wiederholung zu konfrontieren.

 Bewertung

War es beim SHOU MAI die Hitze, so ist es beim CHI MAI meist die Kälte, die ihn hervorruft. Finden wir einen langsamen Puls, so ist es nicht schwer, ihn als eine Verminderung der Dynamik des Patienten zu deuten. Der Puls im allgemeinen ist, wie schon besprochen, immer ein Ausdruck des YANG - eben der Dynamik. Ein CHI MAI ist demnach relatives Yin, und Kälte ist der Hauptfaktor, der die Dynamik des YANG in diesem Fall hemmen kann. Bei Kälte schrumpft das Qi, und die Blutbewegung erstarrt. Dieses Stagnationsgeschehen tritt häufig durch Schmerzen zutage, im Puls wird sich eine Tendenz zur Saitenförmigkeit – XIAN - konotieren.

Im weiteren ist es wichtig, zu unterscheiden, ob es sich bei dieser Kälte um einen Füllezustand oder einen Leerezustand handelt. Fülle-Kälte bezeichnet das Eindringen des äußeren pathogenen klimatischen Faktors Kälte. In diesem Fall wird der CHI MAI zudem kräftig und voll, also SHI erscheinen. Andere diagnostische Erhebungen werden auf ein akutes Bild einer – schulmedizinisch gesprochen – Infektion verweisen.
Porkert macht den Hinweis, daß in seltenen Fällen der langsame und volle Puls auch eine Hitzekrankheit begleiten kann, wenn die Hitze den QI-Fluß in den Meridianen stark behindert [71] . Es handelt sich dann um eine Affektion der YANG MING – Schicht, die im Verbund mit geblähtem Bauch und Obstipation auftritt [72] . Hat der CHI MAI einen weichen Charakter (RUAN), so vermutet Kaptchuk ebenfalls ein Hitze-Geschehen, meist mit zusätzlichen Feuchtigkeitsaspekten. Mit Verweis auf chinesische Quellen sieht Kaptchuk diesen seltenen Zustand z.B. bei Meningitiden mit ungünstiger Prognose. [73]

Handelt es sich indes um sog. Leere-Kälte, wird der CHI MAI zugleich einen leeren, kraftlosen (XU, ROU) Charakter besitzen. In diesem Fall steht der Behandler dem Zustand einer Leere des YANG mit relativem YIN-Überschuß gegenüber. Van Nghi gibt uns für diesen Fall weitere Differenzierungskriterien in die Hand. So deutet er eine Modulation des langsamen Pulses nach FU – oberflächlich – als Leere des YANG an der Körperoberfläche, was wohl als Erschöpfung des WEI QI, also des Abwehr-QI, zu verstehen ist. Ist der CHI MAI zugleich CHEN – tief – , attestiert Van Nghi eine Leere des Feuers im Inneren. Dies bedeutet dann einen Nieren-YANG-Mangel. [74]

Die Tiefe des Pulses – FU MAI und CHEN MAI

Bezüglich der Tiefe des Pulses sind bereits im einleitenden Kapitel Pulsebenen (S.8) Ausführungen gemacht worden, auf die an dieser Stelle verwiesen sei.

FU MAI

Nomenklatur: FU  (Wade Gilles: FU) bedeutet im Chinesischen `oberflächlich´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus superficialis [75] . Im Vietnamesischen wird er PHU genannt, und im Deutschen meist mit `oberflächlich´ übersetzt. Wie schon weiter oben in Anmerkung 8 ausgeführt, wird im Chinesischen auch das diametrale Gegenstück des oberflächlichen Pulses, der sogenannte verborgene oder am Knochen haftende Puls als FU bezeichnet. Diese vermeintliche Identität besteht jedoch nur innerhalb der westlichen Umschriften Pin Yin und Wade Gilles und somit nur für den nicht chinesisch sprechenden Rezipienten. Im Chinesischen finden wir für beide Termini unterschiedliche Schriftzeichen und Aussprachen. Dabei wird FU – oberflächlich – mit verlängertem `u´ gesprochen, FU – verborgen – indes mit kurzem, absteigendem `u´.

Qualifikation: YANG

 Beschreibung

Dieser Puls besitzt in der obersten Ebene (JU) seine größte Deutlichkeit. Er befindet sich direkt unter der Hautoberfläche [76] und ist ohne Druck, durch reines Auflegen des Palpationsfingers zu spüren. Nimmt der Palpationsdruck und damit auch die Palpationstiefe zu, fällt die Intensität dieses Pulses stark ab, allerdings laut Schnorrenberger „ohne indessen leer zu werden“ [77] oder zu verschwinden. Diese Aussage zeigt uns, daß die Qualität FU nichts über die Mächtigkeit des Pulses aussagt, also über seine Stärke oder Schwäche. Ein reiner FU MAI stellt lediglich die Verschiebung der Pulswelle im Lumen der Arterie hin zur Oberfläche dar.

Bewertung

Zunächst ist bei einem FU MAI an einen Befall der Oberfläche durch einen exogenen pathogenen Faktor zu denken. Hier kämpft das WEI QI des Patienten mit diesem eingedrungenen Faktor. Dabei gibt uns die Stärke der Pulswelle einen Anhaltspunkt über die Stärke des Abwehr-QI des Patienten. Wir spüren also nicht den pathogenen Faktor an sich, der den Patienten befallen hat, sondern nur die Energie, die ihm der Organismus des Patienten durch das WEI QI entgegen zu setzen hat. Ein starker FU MAI sagt uns nichts über die Stärke des pathogenen Faktors, sondern attestiert dem Patienten ein waches, reaktionsfähiges Abwehr-QI und damit eine gute Prognose. Finden wir indes einen schwachen FU MAI, wird es dem eingedrungenen pathogenen Faktor leicht gelingen, in die Tiefe vorzudringen. Die Prognose ist schlechter.
Viele Autoren behaupten, daß es immer der äußere Wind ist, in dessen Gefolge andere pathogene Faktoren in den Organismus eindringen. An der Konnotation des vorliegenden FU MAI ist es nun möglich, festzustellen, welcher pathogene Faktor mit dem Wind eingedrungen ist. So wird der FU MAI zudem JIN – gespannt – erscheinen, wenn es sich um Wind-Kälte handelt. Ist er jedoch SHOU – schnell – handelt es sich bei dem eingedrungenen Faktor um Wind-Hitze.
Kaptchuk gibt den kräftigen und vielleicht tendenziell schlüpfrigen FU MAI auch als Zeichen für einen inneren Wind ein reales Übermaß an YANG an. [78]

Ist ein FU MAI kraftlos, Maciocia sagt leer [79] , so liegt ein Mangel an YIN oder XUE vor. Hier ist ein chronisches, zehrendes Geschehen zu vermuten, das den Patienten geschwächt hat. Das geschwächte YIN kann das YANG nicht mehr halten, deshalb die Oberflächlichkeit des Pulses. Andererseits ist jedoch das YIN auch nicht mehr in der Lage, das YANG zu nähren und zu stützen, was den Puls leer und kraftlos erscheinen läßt.

CHEN MAI

Nomenklatur: CHEN  (Wade Gilles: CH´EN) bedeutet im Chinesischen `tief´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus mersus [80] . Im Vietnamesischen wird er TRAM genannt und im Deutschen meist mit `tief´ übersetzt. Porkert nennt ihn auch `untergetaucht´, Kaptchuk bezeichnet ihn als `sinkend´.

Qualifikation: YIN

 Beschreibung

Antagonistisch zum oberflächlichen Puls ist dieser Puls am deutlichsten, manchmal sogar ausschließlich auf der untersten Pulstastebene (AN) zu spüren. Wieder ist dabei keine Aussage über seine Mächtigkeit impliziert. Der palpierende Finger muß, um diesen Puls zu spüren, Kontakt mit dem Knochen aufnehmen und findet ihn tief in den Muskeln und Sehnen. Dennoch ist er nicht der tiefste Puls, den die Chinesische Pulslehre kennt. Noch tiefer liegt nur noch, sozusagen am Knochen haftend, der verborgene oder versteckte Puls (FU(t)-MAI) .

Bewertung

Dieser Puls läßt eine innere Störung vermuten. Van Nghi spricht als Ursache von latenten, ehemals äußeren pathogene Faktoren [81] , die vom Organismus in der akuten Phase der Erkrankung nicht eliminiert werden konnten und nun chronifiziert sind. Maciocia vermutet hier eine Pathologie der ZANG-Organe [82] .
Ist der CHEN MAI zudem kräftig, liegt eine Fülle vor. Die verschleppten pathogenen Faktoren bedingen hierbei eine Blockade von QI und/oder XUE. Gleichzeitig werden QI und XUE dadurch geschwächt. Dennoch ist der kräftige CHEN MAI ein Zeichen dafür, daß das WEI QI immer noch genügend Kraft besitzt, gegen die Pathologie zu kämpfen. Wieder ist es die Konnotation des CHEN MAI, also eine Tendenz nach langsam, schnell oder schlüpfrig, die Rückschlüsse auf die Art des pathogenen Faktors erlaubt.
Findet sich ein kraftloser CHEN MAI ist das WEI QI, ja das QI an sich geschwächt und in seiner Wirksamkeit beschränkt. Es liegt eine innere Leere vor.

Laut Kaptchuk kann der CHEN MAI jedoch auch in Verbindung mit einem akuten Befall des Organismus durch einen äußeren pathogene Faktor auftreten und zeigt dann an, daß sich YANG und QI des Organismus in Leere befinden und deshalb nicht in der Lage sind, die äußere Störung adäquat zu bekämpfen. [83]

Weitere häufige Pulsqualitäten – XIAN MAI, HONG MAI und HUA MAI

Wir verlassen nun das Gebiet der antagonistischen Pulse und wenden uns Pulsen zu, die innerhalb der Chinesischen Pulslehre kein direktes `Gegenstück´ besitzen. Für den Praktiker wird es nun schwieriger, mußte er bei den bislang besprochenen Pulsen doch `nur´ entscheiden, ob das, was er spürt, tief oder oberflächlich, schnell oder langsam, voll oder leer ist. Es gibt noch mehr solcher Paarungen, wie zum Beispiel kurz-lang oder aber groß-klein. Der Umfang dieser Arbeit erlaubt es jedoch nicht, weiter auf diese Paarungen einzugehen. Die praktische Häufigkeit von Pulsqualitäten erscheint als erstes Auswahlkriterium wichtiger.
Schwieriger wird es für den Praktiker nun, weil er sich jetzt mit der Form der Pulswelle auseinander zu setzen hat. Er wird sich also noch mehr auf das `Wie´ und weniger auf das `Wieviel´ der Pulswellen zu konzentrieren haben.

Ein weiterer Grund der Auswahl der im Folgenden vorzustellenden Pulsbilder ist die Tatsache, daß XIAN MAI, HONG MAI und HUA MAI genau wie die eben schon besprochenen Pulse FU MAI und CHEN MAI sogenannte Wandlungsphasenpulse darstellen. Diesem Begriff soll in dieser Arbeit abschließend noch ein kurzes Kapitel gewidmet werden.

XIAN MAI

Nomenklatur: XIAN  (Wade Gilles: HSIEN) bedeutet im Chinesischen `saitenförmig´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus chordalis [84] . Im Vietnamesischen wird er HUYEN genannt und im Deutschen meist mit `saitenförmig´ übersetzt. Schnorrenberger und Van Nghi nennen ihn auch `gespannt´, was wohl Anlaß zu häufiger Verwechslung mit dem straffen Puls –  JIN MAI –  gibt, den widerum Maciocia als `gespannt´ bezeichnet. Beide Pulse haben sehr unterschiedliche Aussagen und genaueste Differenzierung tut not [85] Kaptchuk bezeichnet den XIAN MAI als `drahtig´.

Qualifikation: YANG

 Beschreibung

Wie die Saite eines Instrumentes wirkt dieser Puls fest, straff . Seine geringe seitliche Ausdehnung läßt ihn scharf und verschmälert wirken. Er ist lang und gerade. Man hat den Eindruck, als würde er gegen den Palpationsfinger schlagen. Im Vergleich zu dem oben bereits erwähnten JIN MAI wirkt er dünner, straffer und härter. Im Gegensatz zum normalen Puls fehlt im die wellenartige, fließende Qualität. Er kann in jeder Ebene der Pulstastung und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten auftreten, erscheint aber meist kraftvoll.

Bewertung

Zum einen deutet dieser Puls auf eine Windstörung hin. Dies kann einerseits äußeren Wind bedeuten, zum anderen jedoch auch inneren Wind. Innerer Wind ist in der Chinesischen Medizin untrennbar mit den Funktionskreisen von Leber und Gallenblase assoziiert. Diese Tatsache spiegelt sich auch im Synonym GAN MAI [86] für XIAN MAI wider. GAN ist im Chinesischen die Leber. Hauptfunktion der Leber [87] ist es, die Abläufe im Organismus zu harmonisieren. Kann sie diese Aufgabe nicht erfüllen, ist die Durchlässigkeit der Meridiane und der Säftefluß gehemmt. Es kommt, wie Porkert es ausdrückt zu einer `Spastizität´. Diese Verspanntheit und Disharmonie tritt unabhängig vom Zustand der dem Organismus zur Verfügung stehenden Ressourcen auf. D.h. sie ist unabhängig von ewaitigen Fülle- bzw. Leerezuständen.
Schmerzen werden vom Organismus oft durch eine verspannte Haltung beantwortet, die ihrerseits den harmonischen Fluß der Energien oder Säfte im Körper behindert und weiteren Schmerz induziert. Deshalb wird man den XIAN MAI oft im Gefolge von Schmerzgeschehen feststellen können. Er wird dann häufig in der Modulation CHEN, also `tief´ auftreten.
Immer wieder wird der XIAN MAI auch mit Schleim-Pathologien [88] in Verbindung gebracht. Schleim hemmt den freien Fluß von QI, XUE und Körpersäften in den drei Erwärmern und legt dabei natürliche Bewegung im Körper lahm. Wieder ist es die Harmonie der Körperabläufe, die gestört ist und sich im XIAN MAI widerspiegelt.

 

Auch wenn man das Pferd von hinten aufzäumt, bestätigt sich der Zusammenhang zwischen XIAN MAI und Schleim. Dabei wird eine disharmonische Leber nach dem Überwindungszyklus über kurz oder lang die Organe der Wandlungsphase ERDE, die Milz und den Magen, angreifen und schwächen. Eine schwache Milz wird dann Probleme haben, das Klare vom Trüben zu trennen, das Trübe zur Ausscheidung abzusenken und das Klare aufsteigen zu lassen. Jetzt entsteht Schleim, der seinerseits zur Disharmonisierung beiträgt. Ein circulus viciosus ist entstanden, den es durch gezielte Behandlung zu durchbrechen gilt.

Auch die Leber ist natürlich in einen YIN- und einen YANG-Anteil aufgeteilt. Kommt es zu einer Schwächung des Leber-YIN, also ihrer Struktivität, kann man den XIAN MAI in verschiedenen Modulationen antreffen. Ist er `schnell´, kann ein bestehendes akutes Leberfeuer, also ein relativer Überschuß an Leber-YANG attestiert werden. Diesen Zustand könnte man beispielsweise nach einem weinseligen Abend mit morgendlichem Kater antreffen. Eine Steigerung dieses Zustandes ist das `lodernde Leberfeuer´. Hier wird der Puls zusätzlich noch die Qualität DA - `groß´- aufweisen. Ist der Mangel des Leber-YIN jedoch dominant, liegt also momentan kein überschießendes Leber-YANG vor, wird der schnelle XIAN MAI eine Tendenz zur Qualität XI - `fein´- aufweisen.

HONG MAI

Nomenklatur: HONG  (Wade Gilles: HUNG) bedeutet im Chinesischen `überflutend´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus exundans [89] . Im Vietnamesischen wird er ebenfalls HONG genannt und im Deutschen meist mit `überflutend´ übersetzt. Schnorrenberger nennt ihn `weit´ und `stromartig´, Van Nghi  `weit´ und `groß´.

Qualifikation: YIN im YANG

Beschreibung

Das beste Bild zur Vorstellung eines HONG MAI ist das einer auf den Strand laufenden Welle, die sich bricht. Die Pulswelle steigt steil an. Sie kommt „mit Macht“ [90] , wie es Porkert ausdrückt. Dabei besitzt sie die Attribute `groß´, `breit´, `voll´, `oberflächlich´ und `lang´. Im Ansteigen gleicht sie auch einem Fluß, er über seine Ufer tritt. Gebrochen allerdings verebbt sie schwach und allmählich und wirkt leer.

Dieses Bild veranschaulicht schön die Ambivalenz des HONG MAI, wie sie sich auch in der Qualifikation `YIN im YANG´ ausdrückt.

 Bewertung

Der HONG MAI wird immer dann auftreten, wenn eine Hitze-Pathologie, bzw. ein YANG-Fülle-Syndrom vorliegt. Wir haben dann meist im Zuge einer akuten fiebrigen Erkrankung Hitze, die nach außen dringt, jedoch nicht ungehindert abgeleitet werden kann. Der Puls wird in diesem Falle auch `getrieben´ wirken. Eine zusätzliche Beschleunigung der Pulsfrequenz ist wahrscheinlich. Allerdings ist hier eine gewisse Vorsicht geboten, bevor dem HONG MAI eine Tendenz zu SHOU -`schnell´ - beigestellt wird. Auch ein unbeschleunigter HONG MAI wird für das subjektive Empfinden des Tastenden aufgrund seines steilen Amplitudenanstiegs zunächst beschleunigt wirken, ohne es nach dem Abgleichen mit der Atemfrequenz des Patienten auch objektiv zu sein. Wichtig wird diese Unterscheidung, wenn man erfährt, daß der HONG MAI nicht nur im Gefolge eines akuten Hitze/YANG-Überschusses auftreten kann, sondern auch im Zuge eines YIN-Mangels, der durch eine zehrende und dann chronische Krankheit verursacht wird. In diesem Fall herrscht ein relativer YANG-Überschuß. Die geschwächten inneren struktiven Ressourcen sind nicht mehr im Stande, die aktiven Kräfte zu halten. Dieser Zustand führt chronisch zu einer immer stärkeren Entkopplung von QI und XUE und kann für einen geschwächten und ausgezehrten Patienten unmittelbare Lebensgefahr anzeigen, obwohl nach außen und auch subjektiv für den Patienten eine scheinbare Besserung auftritt. Pflege- oder Hospizpersonal kennt die Erfahrung, daß alte, schon agonische Patienten Tage oder Stunden vor ihrem Tod noch eine Phase von oft frappanter Klarheit und Aufgewecktheit durchleben. In der chinesischen Metaphorik wird dieses Phänomen mit dem letzten und heftigen Aufflackern einer zur Neige gehenden Kerze verglichen.

Natürlich ist das eben Beschriebene eine Extremform. Nicht jeder YIN-Mangel-Patient mit einem HONG MAI steht kurz vor dem Exitus. Einen durch YIN-Mangel hervorgerufenen HONG erkennt man laut Porkert daran, daß dieser am Pulssitus des Organs auftritt, an dem der pathologische Prozeß stattfindet, und die anderen Pulse sich im Zustand der Schwäche zeigen.

HUA MAI

Nomenklatur: HUA (Wade Gilles: HUA) bedeutet im Chinesischen `schlüpfrig´. Porkert bezeichnet diesen Puls lateinisch als pulsus lubricus [91] . Im Vietnamesischen wird er HOAT genannt und im Deutschen meist mit `schlüpfrig´ übersetzt. Schnorrenberger und Van Nghi  nennen ihn `gleitend´.

Qualifikation: YANG im YIN

 Beschreibung

Wieder ist es ein Bild, das die Erscheinungsform dieses Pulsbildes am besten beschreibt. Wenn man sich eine eingeölte Perlenkette, die durch die Finger gleitet, vorstellt, erhält man eine sehr gute Vorstellung des HUA MAI. Er fühlt sich glatt, leichtgängig, rund und fließend an. Dabei scheint er bei zunehmendem Druck diesem ausweichen zu wollen.

Dieser Puls zeigt dem Behandler eine Belastung der sog. „Mitte“. Milz und Magen, also die Organe der Wandlungsphase ERDE sind mit der Assimilation, Umwandlung und Integration von Nahrung betraut. Jeder Zustand oder Prozeß, der dem Körper diese Vorgänge abverlangt, stellt eine Belastung der Mitte dar. Damit ist es klar, daß der HUA MAI oft physiologisch auftritt. Z.B. nach einer Mahlzeit oder übertragen - da die Milz auch für die geistige `Verdauung´ zuständig ist - im Gefolge intellektueller Adaptionsprozesse. Immer wieder wird der HUA MAI als Schwangerschaftspuls beschrieben [92] , Porkert stellt ihn der Menstruation zur Seite. Diese Tatsachen verwundern nicht, wenn man sich vorstellt, daß Menstruation und vor allem die Gravidität dem Organismus verstärkt Transformationsprozesse [93] abverlangt.

Pathologisch wird der HUA MAI immer dann, wenn die Mitte eines Patienten der normalen Belastung durch Essen, Denken usw. nicht mehr standhalten kann und praktisch dauerhaft überlastet ist. Ist dies der Fall, entsteht innere Feuchtigkeit und im weiteren Schleim. Nahrung wird nicht weiterverarbeitet und Nahrungsstagnation entsteht. Damit ist der HUA MAI der Puls der Milz-QI-Schwäche [94] . Allerdings wird man ihn natürlich auch beobachten, wenn ein Patient dem äußeren pathogenen Faktor `Feuchtigkeit´, v.a. in Verbindung mit `Kälte´ in krankmachendem Maß ausgesetzt war.

Ein Kriterium dafür, ob ein gefühlter HUA MAI bei einem Patienten eine momentane und physiologische Belastung der Mitte abbildet oder ob es sich um eine pathologische Überbelastung handelt, stellt die Stärke des HUA MAI dar. Ist er nämlich schwach, kann auf eine Schwäche des Milz-QI geschlossen werden. Ein starker HUA MAI klärt sich meist bei Nachfrage durch ein kurz vor der Erhebung eingenommene Mahlzeit.

Die Wandlungsphasenpulse

Das Modell der Wandlungsphasen hat in der schulmedizinischen Adaption der chinesischen Medizin keinen besonders hohen Stellenwert. Es gilt als veraltet gegenüber der Syndromlehre und in vielen Fällen als zu philosophisch, um in der Praxis nutzbringend eingesetzt zu werden. Richtig ist natürlich, daß dieses Modell in der Tat bei akuten und symptomatisch klar zu definierenden pathologischen Prozessen oftmals der Syndromlehre unterlegen ist. Allerdings muß gesagt werden, daß seine Bedeutung, v.a. bei chronischen Leiden, die meist in der Konstitution des Patienten begründet sind oder dieser selbst schon ihren Stempel aufgeprägt haben, von unschätzbarem Wert ist. Gerade der Alternativmediziner wird immer wieder mit Krankengeschichten konfrontiert, die von der Akutmedizin nur noch palliativ behandelt werden können und als `austherapiert´ bezeichnet werden. Gerade hier ist eine Kenntnis der Zusammenhänge des Wandlungsphasenmodelles häufig der Schlüssel zur Annäherung an eine Heilung. Andererseits sollte der traditionell chinesischer Therapeut immer vor Augen haben, daß es der Chinesischen Medizin primär um Verhinderung von Krankheit geht. Ein chinesischer Weiser soll sinngemäß einmal gesagt haben, eine Behandlung zu beginnen, wenn der Patient schon manifest erkrankt ist, sei wie einen Brunnen erst dann zu graben, wenn man Durst verspürt. Präventivmedizin mit den Methoden der Chinesischen Medizin ohne genaue Kenntnis des Wandlungsphasenmodelles in seinen unterschiedlichen Nuancierungen ist nach Ansicht vieler Praktiker nicht möglich.

Das Wandlungsphasenmodell beschreibt den zyklischen Verlauf aller Dinge in der Zeit. Egal, ob ein Tag, ein Jahr oder ein Menschenleben, alle Zeitabläufe werden im chinesischen Paradigma nicht linear, sondern als Kreislauf verstanden [95] . Die folgende Tabelle gibt die Wandlungsphasenentsprechung angewandt auf verschiedene Kreisläufe an:

 

WP Holz

WP Feuer

WP Erde

WP Metall

WP Wasser

Tag

Morgen

Mittag

Früher Nachmittag

Spätnachmittag

Abend

Jahr

Frühling

Frühsommer

Spätsommer

Herbst

Winter

Leben

Geburt/Kindheit

Adoleszens

Erwachsenenalter

Lebensabend

Senium/Tod

Funktionskreis

Leber/Gallenblase

Herz/Dünndarm

Milz/Magen

Lunge/Dickdarm

Niere/Blase

Nun ist jeder Wandlungsphase auch ein Pulscharakter zugeordnet, der innerhalb dieser Phase eines Zyklus als physiologisch gilt. Unter normalen Umständen sollten die fünf ZANG-Organe die den Jahreszeiten entsprechenden Pulse aufweisen. Der Leberpuls des Frühlings sollte drahtig (XIAN) sein; der Herzpuls des Sommers sollte überflutend (HONG), der Milzpuls des Spätsommers sollte schlüpfrig (HUA), der Lungenpuls des Herbstes oberflächlich (FU) und der Nierenpuls des Winters tief (CHEN) sein. Auch der gesamte Puls des Patienten kann zu einer bestimmten Zeit eine Tendenz zum Puls der entsprechenden Wandlungsphase aufweisen, ohne gleich auf eine Pathologie hinzudeuten. Ein extremes Beispiel: Wir dürfen uns nicht wundern, wenn ein 18-jähriger Patient, den wir um 9 Uhr morgens im April einbestellt haben, eine mehr oder minder starke Tendenz zum XIAN MAI auf allen Positionen, im besonderen jedoch auf der Leberposition aufweist. Ein ähnliches Pulsbild im November bei einer 81-jährigen bettlägrigen Patientin beim abendlichen Hausbesuch jedoch sollte uns in Alarmbereitschaft versetzen.

Arbeitet man nun mit dem Wandlungphasenmodell bei einzelnen Patienten oder Behandlungen, so ist nun auch neben dem Hervorbringungszyklus der Überwindungs- und Kontrollzyklus anwendbar. Finden wir beispielweise einen XIAN MAI auf der Milzposition, könnte dies eine Überkontrolle der Milz durch die Leber bedeuten. Ein XIAN MAI auf der Lungenposition kann einen Hinweis auf die Überwindung der Lunge durch die Leber darstellen.

Mit diesen kurzen Ausführungen zum Modell der fünf Wandlungsphasen soll diese Arbeit, in der Hoffnung einen ersten Einstieg in die chinesische Pulslehre gefunden zu haben, enden.

Anhang: Tabellen

Nomenklative Tabelle der Pulspositionen in der Chinesischen Medizin

Lage

Chinesisch

Porkert/Lateinisch

Van Nghi

Kaptchuk

Proximal

CHI

Pes

Fuß

3

Mitte

GUAN

Clusa

Schranke

2

Distal

CUN

Pollex

Daumen

1

Vergleichende Tabelle der Abbildung von ZANGFU an den Pulstaststellen in ausgewählten Klassikern der Chinesischen Medizin [96]

POSITION

Nei Jing
1.Jhr v. Chr.

Nan Jing 
200 n.Chr.

Wang Shu-he
280 n.Chr.

Li Shi-zhen 1534 n.Chr.

Zhang Ji-bing
1624 n.Chr.

20 Qualitäten

 

24 Qualitäten

27 Qualitäten

 

Linke Hand

CUN

Herz

Brustbein

Arm SHAO YIN

Arm TAI YANG

Herz

Dünndarm

Herz

Herz

Herzbeutel

GUAN

Leber

Zwerchfell

Bein JUE YIN

Bein SHAO YANG

Leber

Gallenblase

Leber

Leber

Gallenblase

CHI

Niere

Bauch

Bein SHAO YIN

Bein TAI YANG

Niere

Blase

Niere

Niere

Blase / Dickdarm

Rechte Hand

CUN

Lunge

Brust

Arm TAI YIN

Arm YANG MING

Lunge

Dickdarm

Lunge

Lunge

Brustbein

GUAN

Magen

Milz

Bein TAI YIN

Bein YANG MING

Milz

Magen

Milz

Milz

Magen

CHI

Niere

Bauch

(im Text unklar)

Niere

SAN JIAO

Niere

Niere

SAN JIAO/Dünndarm

 Tabelle der neun Körperpulstaststellen [97]

 

Lokalisation

Aussage über die Energetik von

Bemerkung

Kopfpulse

GB 3

Schädelflanke

 

 

3E 21

Ohr und Auge

 

 

Ma 3

Mund und Zähne

 

Handpulse

Lu 8

Lungenfunktionskreis und Verfassung aller 12 Hauptleitbahnen

Fällt zusammen mit der Radialistaststelle der mittleren Position

 

He 7

Herzfunktionskreis

 

 

Di 4

Thorax

 

Fußpulse

Ni3

Nierenfunktionskreis

 

 

Mi 11

Milz- und Magenfunktionskreis

Bedingt aussageidentisch mit Ma 42

 

Ma 42

Milz- und Magenfunktionskreis und Magen-Qi

Bedingt aussageidenisch mit Mi 11, das Magen-Qi kann auch über Ma 9 beurteilt werden

 

Le 10

Leberfunktionskreis

Bei Männern anstatt Le 3

 

Le 3

Leberfunktionskreis

Bei Frauen anstatt Le 10

Nomenklative Tabelle der Pulsqualitäten in der Chinesischen Medizin

Chinesischer Name in PIN YIN

Übersetzungen ins Deutsche

Lateinischer Name nach Porkert

Vietnamesicher Name nach Van Nghi

Cinesischer Name in

Wade Gilles

FU MAI

Oberflächlicher Puls

Pulsus superficialis

PHU

Fu mo

CHEN MAI

Tiefer Puls

Porkert: untergetaucht

Kaptchuk: sinkend

Pulsus mersus

TRAM

Chén  mo

CHI MAI

Langsamer Puls

Pulsus tardus

TRI

Ch´ich mo

SHOU MAI

Schneller Puls

Porkert: beschleunigt

Pulsus celer

SAC

Shu mo

XU MAI

Leerer Puls

Pulsus depletus (neu) /pulsus inanis (alt)

HU

Hsü mo

SHI MAI

Voller Puls

Pulsus repletus

THUC

Shih mo

HUA MAI

Schlüpfriger Puls

Van Nghi/Schnorrenberger: gleitend

Pulsus lubricus

HOAT

Hua mo

SE MAI

Rauher Puls

Porkert: schleifend

Pulsus asper

SAP

Sêh mo

CHANG MAI

Langer Puls

Pulsus longus

TRUONG

Ch´ang mo

DUAN MAI

Kurzer Puls

Pulsus brevis

DOAN

Tuan mo

HONG MAI

Überflutender Puls

Van Nghi: groß und weit

Schnorrenberger: stromartig und weit

Pulsus exundans

HONG

Hung mo

DA MAI

Großer Puls

Pulsus magnus

 

Ta mo

WEI MAI

Verschwindender Puls

Schnorrenberger: fadenförmig/zart

Pulsus evanescens

TAN

Wei mo

JIN MAI

Straffer Puls

Maciocia: gespannt

Pulsus intentus

KHAN

Chin mo

HUAN MAI

Behäbiger Puls

Leitfaden: träge

Maciocia/Van Nghi: verzögert

Schnorrenberger/Kaptchuk: sanft

Pulsus languidus

HOAN

Huan mo

XIAN MAI

Seitenförmiger Puls

Van Nghi/Schnorrenberger: gespannt

Kaptchuk: drahtig

Pulsus chordalis

HUYEN

Hsien mo

KOU o. KONG MAI

Hohler  Puls

Van Nghi: dikrot

Pulsus cepacaulicus

KHAU

Hou mo

GE MAI

Trommelnder Puls

Van Nghi: hohl

Pulsus tympanicus

CACH

Ko mo

LAO MAI

Haftender Puls

Van Nghi: beschwerlich

Kaptchuk: fixiert

Pulsus fixus

LAO

Lao mo

RU MAI

Nachgiebiger Puls

Leitfaden/Maciocia: sanft

Van Nghi: weich

Kaptchuk: zerfließend

Pulsus lentis

NHU

Ju mo

RUAN MAI

Weicher Puls

Pulsus mollis

 

Juan mo

RUO MAI

Kraftloser, schwacher Puls

Pulsus invalidus

NHUOC

Juo mo

SAN MAI

Zerfließender Puls

Kaptchuk: auflösend, zerstreut

Pulsus diffundens

 

San mo

XI MAI

Feiner, dünner Puls

Pulsus minutus

TE

Hsi mo

XIAO MAI

Kleiner Puls

Pulsus parvus

VI

Hsia mo

FU MAI

Verborgener Puls

Porkert: sich verkriechender Puls

Maciocia: versteckter Puls

Pulsus subreptus

PHUC

Fu mu

DONG MAI

Beweglicher Puls

Van Nghi: unruhig

Pulsus mobilis

DONG

Tung mo

CU MAI

Jagender Puls

Van Nghi: erregt

Pulsus agitatus

SUC

Ts´u mo

JIE MAI

Hängender Puls

Van Nghi/Kaptchuk/ Schnorrenberger: geknotet

Pulsus haesitans

KET

Chieh mo

DAI MAI

Unterbrochener Puls

Van Nghi: wechselnd

Schnorrenberger: stellvertretend

Pulsus intermittens

DAI

Tai mo

JI MAI

Rasender Puls

Van Nghi: flink

Pulsus concitatus

TAT

Chi mo

Literatur

AUTOR

Titel, Erscheinungsjahr Auflage, Verlag, Ort

Bezeichnung in Fußnoten

FOCKS, C./HILLENBRAND, N. (Hrsg.)

„Leitfaden Traditionelle chinesische Medizin“ 1997, Fischer, Ulm u.a.

FOCKS,Leitfaden

HEMPEN, Carl-Hermann

„DTV-Atlas zur Akupunktur“,  1995, DTV-Verlag, München

HEMPEN, Atlas

MACIOCIA, Giovanni

„Die Grundlagen der chinesischen Medizin“ 1994, Verlag für Traditionelle Chinesische Medizin/Wühr, Kötzting

MACIOCIA, Grundlagen

PORKERT, Manfred

„Lehrbuch der chinesischen Diagnostik“ 19762,

?, ?

PORKERT, Diagnostik

PORKERT, Manfred

„Neues Lehrbuch der chinesischen Diagnostik“ 1993, Phainon, Dinkelscherben

PORKERT, Diagnosik II

PORKERT, Manfred/ HEMPEN, Carl-Hermann

„Systematische Akupunktur“ 1985,

Urban & Schwarzenberg, München u.a

PORKERT/HEMPEN

SCHNORRENBERGER, Claus C.

„Lehrbuch der chinesischen Medizin für westliche Ärzte“19853, Hippokrates, Stuttgart

SCHNORRENBERGER

VAN NGHI, Nguyen

„Pathogenese und Pathologie der Energetik in der chinesischen Medizin“ Bd.1, 1974, Med.Lit.Verlagsgesellschaft, Uelzen

VAN NGHI, Bd.1

VAN NGHI, Nguyen

„Pathogenese und Pathologie der Energetik in der chinesischen Medizin“ Bd.2, 1974, Med.Lit.Verlagsgesellschaft, Uelzen

VAN NGHI, Bd.2

KAPTCUK, Ted J.

„Das große Buch der chinesischen Medizin“
1997, Heyne , München

KAPTCHUK

NI, Maoshing (Hrsg.)

„Der Gelbe Kaiser“

Das Grundlagenwerk der Traditionellen Chinesischen Medizin (kommentierte Übersetzung des Huang Ti Nei Jing Su Wen )

1998, Barth Verlag, München u.a.

NI

 


[1] Am Fuß befinden sich fünf solcher Taststellen wobei zwei (Mi 11 und MA 42) aussagegleich und zwei geschlechtsspezifisch (Le 10 bei Männern, Le 3 bei Frauen) verwendet werden.

[2] GUAN bedeutet „Schranke“.

[3] CHI bedeutet „Elle“.

[4] CUN leitet sich ab von „CUN-KOU“, des chinesischen anatomischen Namen der Gesamtheit der Radialispulstaststellen.

[5] Die drei Radialispulstaststellen fallen annähernd mit Akupunkturpunkten der Lungenleitbahn zusammen. Dabei entspricht der Punkt Lu 8 der GUAN-Position, CHI liegt leicht distal Lu 9 und CUN leicht ulnar von Lu 7 und ist von diesem durch die Sehne des m. brachioradialis getrennt. Lunge 9 wird in der Literatur (z.B Machiocia/Grundlagen S.387) als indizierter Punkt bei schwachen, schwer palpablen oder unklaren Pulsen empfohlen. „Die Lunge ist auf die 100 pulsierenden Gefäße ausgerichtet“ heißt ein Lehrsatz der traditionellen chinesischen Medizin, was den Bezug zwischen Lungenleitbahn und Pulsen untermauert (SCHNORREN-BERGER S 319).

[6] Eine nomenklative Liste der unterschiedlichen Bezeichnungen der Pulstastellen findet sich im Anhang.

[7] persönlich Mitteilung Herbert Vater.

[8] Li Shi-zhen: Die Pulsstudien des Seeuferherren, herausgegeben und kommentiert von der Beijinger Akademie für  traditionelle chinesische Medizin, Peking, Volksverlag 1972, Erstausgabe 1564 n.Chr, zitiert nach KAPTCHUK.

[9] Der interessierte Leser sei hier auf eine Modell-vergleichende Tabelle im Anhang verwiesen.

[10] PORKERT/Diagnostik S.170.

[11] Schulmedizinisch ergeben sich hier Analogien:

Erstens haben die Nieren durch ihre hormonelle Funktion (Renin) initiative Regelfunktion auf den Kreislauf und den Blutdruck, und zweitens haben die anatomisch an die Nieren angegliederten Nebennieren hormonell ebenfalls diese initiative Funktion (Adrenalin, Noradrenalin, Glucocortikoide).

[12] Wang Shu-he 280 n.Chr. und Zhang Ji-bing 1624 n.Chr.

[13] Auch Jingyue genannt, Autor des Buches „Leijing Tuyi“ (Bebilderter Flügel des geordneten Klassikers) aus dem Jahre 1624 n.Chr.

[14] PORKERT/HEMPEN S. 31.

[15] SCHNORRENBERGER S. 322.

[16] Porkert sieht hingegen die Ebene von physiologischen Pulsen auf der CUN- und GUAN-Position in der Ebene XUN, die der Ebene CHI eine halbe Stufe tiefer. PORKERT/HEMPEN S.32.

[17] persönliche Mitteilung.

[18] Es gibt zwei Pulsarten, die mit FU MAI bezeichnet werden. Zum einen ist dies der oberflächliche Puls, der relativ häufig zu finden ist, andererseits wird jedoch auch der wesentlich seltener vorkommende versteckte oder verborgene Puls FU genannt. Beide Pulse unterscheiden sich bezüglich der Tiefe diametral. Ist der eine der oberflächlichste, so finden wir im anderen den tiefsten. Um im Text Verwechslungen vorzubeugen, wird der tiefe FU mit dem Kürzel (t) versehen.

[19] Der KOU MAI ist der hohle Puls. Zunächst wird er oberflächlich wahrgenommen. Sein Hauptcharakteristikum besteht darin, daß er in der mittleren Position nicht wahrnehmbar ist, in der Tiefe jedoch wieder erscheint.

[20] MACIOCIA, Grundlagen S. 177.

[21] Hier beruft sich Maciocia auf LI SHI ZHEN. Die Leber wird dabei als potentielles YANG (und damit immer noch aktuelles YIN ) dem unteren Erwärmer zugeordnet. Dies widerspricht der Zuordnung der Leber zur Pulsposition GUAN als der Position des mittleren SAN JIAO. Wieder einmal zeigt sich die dem westlichen Rezipienten der Chinesischen Medizin so schwerfallende chinesische Fähigkeit und Tugend mit Widersprüchen  leben zu  können, ohne dadurch gleich ein bestehendes System ad absurdum et acta führen bzw. legen zu müssen und einfach pragmatisch vorzugehen.

[22] Nach einer persönlichen Mitteilung durch Herbert Vater ist diese Vorgabe zwar nicht durch klassische Texte belegbar, wird jedoch von chinesischen Praktikern und von Herbert Vater aus empirischen Gründen beachtet. Selbst wenn man die energetische Argumentation ablehnt, erscheint es dennoch sinnvoll, diese Vorgabe zu erfüllen, da sie eine bequemere und entspanntere Haltung von Patient und Behandler induziert.

[23] SCHNORRENBERGER S. 332.

[24] SU WEN Kap. 17 zit. nach NI S. 93.

[25] MACIOCIA, Grundlagen S. 177.

[26] SCHNORRENBERGER S. 323.

[27] Unter anderem Porkert, Maciocia, Schnorrenberger, Kaptchuk und van Nghi.

[28] Der absolut gesunde Mensch ist in der Chinesischen Medizin nicht zu finden, da jeder Mensch durch seine konstitutionelle Anlage ein, wenn auch im besten Fall sehr kleines, Ungleichgewicht bezüglich YIN und YANG und innerhalb der fünf Wandlungsphasen aufweist. Fehler in der Lebensführung und äußere Umstände werden nun im Laufe des Lebens zur Verstärkung oder Veränderung dieses Ungleichgewichtes beitragen und so das Ungleichgewicht symptomatisch werden lassen, das sich nun als medizinisch zu behandelnde Krankheit darstellt. Damit weist auch ein `gesunder´ Mensch qua seiner Konstitution - heute würde man Erbanlage sagen - die Disposition zu einer Krankheit auf. Diese Disposition wird sich bei diesem Menschen auch im Zustand der relativen Gesundheit in den Pulsen widerspiegeln.

[29] Qi Bo ist der Gesprächspartner des gelben Kaisers im HUANG TI NEI JING, das in Dialogform dieser beiden legendären Personen geschrieben ist.

[30] NI S. 140.

[31] ebenda S. 104.

[32] Magen-Qi heißt auf chinesisch `WEI-QI´. Dabei ist es jedoch nicht mit dem identisch geschriebenen `WEI-QI´ zu verwechseln, das die Abwehrkraft bezeichnet.

[33] SCHNORRENBERGER S. 323.

[34] zit. nach VAN NGHI Bd 1. S. 364.

[35] Die Begriffe YIN und YANG sind keine absoluten Polaritäten, sondern zueinander und im Kontext relativ. D.h. etwas kann in einem Zusammenhang YIN sein, in einem anderen Bezug allerdings YANG. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Oben ist YANG, unten ist YIN. Befindet man sich in einem Haus im Erdgeschoß, so hält man sich vom Keller aus gesehen im YANG auf. Vom Speicher betrachtet ist das Parterre jedoch YIN. Vom Dach des 12stöckigen Nachbarhauses werden alle Stockwerke unseres Hause im YIN gesehen.

[36] In der neuen Sekundärliteratur hat sich die PIN YIN-Umschrift für chinesische Schriftzeichen eingebürgert und die früher, vor allem in der französischen Literatur gebräuchliche Wade Gilles-Umschrift ersetzt. Deshalb wird in der vorliegenden Arbeit auch erstere verwendet.
Da aber der Lernende zwangsläufig auch mit älteren Büchern konfrontiert ist, ist die Wade Gilles-Schreibweise der Pulse mit aufgeführt. Bei Pulsbildern, denen kein eigenes Kapitel gewidmet ist, findet sie sich in einer Tabelle im Anhang.

Die Wade Gilles-Umschrift hat den Vorteil, daß sie oft die tatsächliche chinesische Aussprache nachvollziehbarer abbildet. Dies macht ihre Kenntnis vor allem in bezug auf Studienaufenthalte in China nützlich.
Auch die vietnamesische Schreibweise wird genannt, da ihre Kenntnis für französische Sekundärliteratur älteren Erscheinungsdatums und vor allem für die Schriften Van Nghi´s unabdingbar ist.

[37] Manfred Porkert hat sich in seinen Büchern zum Ziel gesetzt, die chinesische Nomenklatur in eine lateinische zu übersetzen. Damit sollte die Wissenschaftlichkeit der Chinesischen Medizin unterstrichen werden und wohl dem schulmedizinisch ausgebildeten Arzt der Zugang zu selbiger vereinfacht werden. Vielen Lernenden und Lehrenden jedoch scheint heute dieses Unterfangen anachronistisch und eher erschwerend, denn verständnisfördernd. Daß Porkert´s Versuch scheitert, kann vermutet werden, da jüngere Autoren aus Porkert´s Richtung (Societas Medicinae Sinensis / SMS), wie z.B Carl Herman Hempen diesen Weg nicht konsequent fortführen. Dennoch wäre es töricht, deshalb den Inhalt porkert´scher Publikationen als profunde und an mancher Stelle einzigartig ergiebige Sekundärquelle zu ignorieren.

[38] Den Begriff depletio sucht man in einem lateinischen Schulwörterbuch vergebens. In einem medizinischen Wörterbuch, hier Pschyrempel 257te Auflage, versteht man unter dem Begriff Depletion die Verminderung körpereigener Stoffe.

[39] Der Begriff inanitas (lat.: Leere) wurde von Porkert in späteren Büchern und Auflagen durch den Begriff depletio ersetzt.

[40] Die  Abschnitte Beschreibung und Bewertung bilden eine Zusammenfassung der verwendeten Literatur (siehe Literaturverzeichnis). Auf genaue Literaturverweise wird in der Regel verzichtet. Der Literaturverweis erscheint nur dort, wo einzelne Autoren eine signifikante Mindermeinung vertreten. Dieses Procedere ist ein Konzession der Wissenschaftlichkeit an die Lesbarkeit.

[41] Porkert unterscheidet als einziger mir bekannter Autor zwischen dem RU MAI und dem RUAN MAI und bedauert, daß dieser Unterschied sonst in der Literatur nicht gemacht wird.

[42] Vorsicht ! Unter zerfließend verstehen alle anderen Autoren den chinesischen SAN MAI, den Kaptchuk widerum als auflösend bezeichnet.

[43] Schnorrenberger nennt den RUO MAI nicht.

[44] Schnorrenberger und van Nghi nennen ihn nicht.

[45] Maciocia nennt ihn nicht.

[46] Nur Porkert und van Nghi nennen ihn. Dabei beklagt Porkert die nur bedingt richtige Gleichsetzung des XIAO MAI mit dem XI MAI bei anderen Autoren. Van Nghi kennt diesen Puls zwar, aber beschreibt ihn als Gegensatz zum HONG MAI. Damit ist Van Nghi´s `kleiner Puls´ mit dem porkertschen XIAO MAI weder in der Beschreibung (erster ist schwer, letzterer sehr deutlich zu tasten) noch in der Wertung  zur Deckung zu bringen.

[47] „Dieser Puls (der XU MAI: Anm. d. Verfassers) ist tatsächlich eher groß, er fühlt sich aber schon bei leicht erhöhtem Palpationsdruck leer an (.).“ MACIOCIA, Grundlagen S. 179.

[48] VAN NGHI Bd.1 S. 366.

[49] Wieder, wie schon beim Begriff depletio, versagt ein lateinisches Standardwörterbuch. In Sachen repletio hat allerdings auch der Pschyrembel nichts zu bieten. Deshalb bleibt nur die Erklärung nach HEMPEN, Atlas S.9 als „energetische `Aufladung´ durch eine Heteropathie“.

[50] Persönliche Mitteilung.

[51] Um einem Mißverständnis explizit vorzubeugen: Der SHI MAI ist nur selten unregelmäßig, und zwar dann, wenn die kausale Fülle zusätzlich eine Blockade von QI oder XUE bedingt.

[52] PORKERT, Diagnostik S. 181.

[53] Kaptchuk (s. KAPTCHUK S. 190) folgt dieser Einschätzung nicht. Er sieht den DONG MAI als eine Kombination aus DUAN ,XIAN, HUA und SHOU. Dabei ist es die Eigenschaft DUAN – kurz - , die der Definition des SHI MAI als `lang´ diametral widerspricht.

[54] MACIOCIA, Grundlagen S. 179.

[55] Schnorrenberger S.328.

[56] KAPTCHUK S. 341 und Anm. 9 S.359.

[57] Zhang Zhong-jing ist der Autor des SHANG-HAN LUN und lebte ca. um 200 n. Chr.

[58] Zhang Jie-bing,  auch genannt Jing-yue, ist der Autor des „Klassischen Werks der Kathegorien“ (LEI JING) und des „Vollständigen Werkes des Jing Yue“ (Jing Yue Quanshu), deren Orginalausgaben 1624 n.Chr. erschienen sind.

[59] Vgl. oben Kap. DER PHYSIOLOGISCHE PULS.

[60] Der Ausdruck `gegenläufiges Feuer´ ist einer Tabelle aus KAPTCHUK S.324 entnommen. Es handelt sich dabei meiner Meinung nach um ein Leere-Feuer, also den Zustand des `abfackelnden´ YANG, weil das haltende YIN zu schwach ist. In unserem Fall ist es das Nieren-YIN, das sehr geschwächt sein muß. Wichtig ist hier das Erkennen der Ursache `Yin-Schwäche´, da ein leeres Feuer nur in absoluten Notfällen (Lebensgefahr) ausgeleitet werden darf, um die kritische Situation zu coupieren. In allen anderen Fälle stellt die Ausleitung von leerem Feuer oder leerer Hitze einen Kunstfehler dar, weil der Patient, ohne Wirkung auf die Ursache seiner Krankheit durch die Behandlung weiter geschwächt wird.

[61] So auch Herbert Vater durch persönliche Mitteilung.

[62] gr. holos: ganz

[63] lat. celer: rasch, schnell.

[64] Ausnahme Porkert: Er bezeichnet ihn als beschleunigt.

[65] Eine Ausnahme bildet hier van Nghi, der sechs Schläge angibt.

[66] Persönliche Mitteilung.

[67] Van Nghi ist hier anderer Meinung. Vgl. hierzu VAN NGHI Bd. I. S. 361.

[68] Die Gleichsetzung der Termini `leere´, `falsche´ und `innere´ Hitze ist in der westlichen Sekundärliteratur sehr verbreitet und bezeichnet meist das Gegenteil von `äußerer´ Hitze. Dennoch gibt es Unterschiede, die für einen Therapieplan richtungsweisend sein können. So bedeutet `leere´ Hitze immer eine kausale YIN-Schwäche, ohne zunächst nach der Ursache für diese YIN-Schwäche zu fragen. Therapieziel wird es sein, YIN aufzubauen und zu stärken.

`Falsche´ Hitze bezeichnet ebenfalls eine YIN-Schwäche, allerdings wurde das YIN explizit durch einen eingedrungenen pathogenen Faktor - und das muß nicht immer äußere Hitze gewesen sein – oder falsche Lebensführung chronisch geschädigt. Man sagt, der eingedrungene pathogene Faktor hätte sich im Körper in falsche Hitze umgewandelt. Hier wird nun versucht werden, das YIN vor weiterer Verletzung zu schützen, aber auch die Verwandlung des pathogenen Faktors umzukehren und diesen dann auszuleiten. Im Falle einer in falsche Lebenweise zu suchenden Ursache muß diese korrigiert werden, will man therapeutische Erfolge erwarten.

`Innere´ Hitze schädigt natürlich ebenfalls das Yin, wenn sie bestehen bleibt, ihre Ursache findet sie jedoch in einer Blockierung des freien Flusses des Qi. Stagnierendes Qi tritt quasi auf der Stelle und erwärmt sich. Es kommt, will man dauerhaft erfolgreich behandeln, darauf an, die Ursache dieser Blockade auszuschalten und die Blockade selbst aufzulösen.

[69] An dieser Stelle erscheint es geboten, einige Bemerkungen über akute und chronische Erkrankungen zu machen. Wenn wir heute Klassiker der Chinesischen Medizin rezipieren, verwundert es, wie wenig chronische Krankheiten beschrieben werden, und wieviel Wert auf eine schnelle, treffsichere Behandlung akuter Geschehen gelegt wird. Bedenkt man jedoch die veränderten Bedingungen der Medizin in China vor ein- oder gar dreitausend Jahren, wird vieles klar. In früherer Zeit war der Mensch viel mehr auf seine nahezu hundertprozentige Gesundheit angewiesen. Verlor er sie durch akute Erkrankung, bedeutete dies meist aufgrund seiner marginalen Ernährungssituation und fehlender Invasiv- und Intensivmedizin den Tod. Eine Erkrankung konnte somit in diesen Zeiten schwerlich chronifizieren, weil sie oft weit vorher den Tod des Patienten bedeutete. Anders in unseren Tagen. Die heutige Medizin ist meist in der Lage, akute, bedrohliche Erkrankungen einzudämmen. Der `Wohlstandspatient´ seinerseits hat genügend Reserven, um seinen Anteil bei der Überwindung von akuten Krisensituationen zu leisten. Allerdings kommt es selten zu einer wirklichen restituio ad integrum, was eben bedeutet, daß Pathologien zwar auf nicht lebensbedrohlichem, aber dennoch für den Patienten oft schwer zu ertragendem Niveau chronifizieren. Hier versagen nun oft die Mittel der vorher so segenbringenden, weil lebenserhaltenden Methoden und Medikationen und leisten ihren iatrogen Anteil am Leiden des Patienten. Häufig ist es genau dieser Patient, der `austherapiert´ in Praxen der Traditionellen Chinesischen Medizin vorstellig wird. Bei aller Notwendigkeit der Orientierung des Traditionellen Chinesischen Therapeuten an seinen historischen Quellen wird dieser jedoch ein chronifiziertes Leiden nur unzureichend behandeln, wenn er blind versucht, klassische Akutmedizin auf die Situation des Patienten anzuwenden.

[70] lat. tardus: langsam, säumig, träge.

[71] vgl. PORKERT Diagnostik S. 172.

[72] vgl. auch KAPTCHUK S. 336.

[73] ebd. S. 336 und S. 359 Anm. 3.

[74] vgl. VAN NGHI Bd.I S. 365.

[75] lat. superficies -ei: die Oberfläche.

[76] Aber Vorsicht! Dabei ist immer im Auge zu behalten, daß ein FU MAI an den Nierenpositionen relativ tiefer liegen wird als ein FU MAI an Herz- oder Lungenposition.

[77] SCHNORRENBERGER S. 326.

[78] vgl. KAPTCHUK S. 333.

[79] Dies steht nun nur vordergründig im Gegensatz zu Schnorrenberger´s Aussage, ein FU MAI würde nicht leer. Der FU MAI für sich genommen hat nicht die Eigenschaft, leer zu werden, allerdings ist es durchaus möglich, daß ein FU MAI mit einem XU MAI, also dem leeren Puls, vergesellschaftet ist.

[80] lat. mergo, mersus: untergehen, versinken.

[81] vgl. VAN NGHI Bd.I S. 365.

[82] vgl. MACIOCIA Grundlagen S. 178.

[83] vgl. KAPTCHUK S. 334 f.

[84] lat. c(h)orda, -ae: Darmsaite, Saitenspiel.

[85] Diese Verwechslungsgefahr zeigt augenfällig, wie sinnvoll es ist, bei der Benennung von Pulsen chinesische Termini zu verwenden.

[86] Vgl. SCHNORRENBERGER S. 332.

[87] Wieder scheint es wichtig, eine grundsätzliche Bemerkung einzufügen. Spricht ein traditionell chinesischer Therapeut z.B. von der Leber, wird er immer der Funktionskreis `Leber´ meinen. Trotzdem kann diese verkürzende und in Fachkreisen wohl auch erlaubte Ausdrucksweise mitunter schlimme Folgen haben, wie der Verfasser in eigener Praxis feststellen mußte. Im Falle einer Patientin machte er in einem Gespräch Aussagen zu ihrer Blut-Stagnation im Uterus. Beim nächsten Besuch berichtete die Patientin, sie behandle sich jetzt in Eigenmedikation mit Aspirin, da sie Angst hätte, daß Blutgerinnsel aus dem Uterus zum Herzen aufsteigen und dort einen Herzinfarkt auslösen könnten.

[88] Hier ist der Schleim (TAN) der Chinesischen Medizin gemein, der natürlich auch das einschließt, was die Schulmedizin unter Schleim versteht, also die Absonderungen der Schleimhäute. Der Begriff des chinesischen Schleimes beinhaltetet jedoch viel mehr. Schleim ist eine eingedickte, kondensierte Form von Feuchtigkeit. Alle Formen von Schwellungen, Knoten und Tumoren sind demnach aus chinesischer Sicht Schleim. Je konkreter und struktureller diese Eindickung ist, umso schwieriger wird sie für den Therapeuten zu behandeln sein. Er muß danach trachten,  Schleim wieder zu verflüssigen und zu dynamisieren, um ihn dann (als Feuchtigkeit) auszuleiten.

[89] lat. exundo: überfluten, überströmen.

[90] PORKERT, Diagnostik S. 175.

[91] lat. lubricus: schlüpfrig, glatt.

[92] u.a. von PORKERT, MACIOCIA und KAPTCHUK.

[93] Das sog. `Schwangerschaftserbrechen´ erklärt die Schulmedizin durch die im Körper der Frau stattfindenden hormonalen Veränderungen. In traditionell-chinesischer Sicht, die noch keine Kenntnis endokriner Zusammenhänge besaß, stellt es eine Milz-Schwäche dar, bei der die Milz die haltende Funktion gegenüber dem Magen einbüßt und das Magen-Qi diese Schwäche zur Rebellion nutzt.

[94] Die Tatsache, daß der HUA MAI auch oft im Gefolge einer Bronchitis auftritt, erklärt sich aus dem Zusammenhang, daß der Schleim bei depleter Mitte zwar dort entsteht, jedoch in den Lungen `abgelagert´ wird. Im Fall von Schleimgeschehen ist demnach sehr genau zu prüfen, ob wirklich eine Schwäche des Lungen-Qi vorliegt und dieses damit nicht mehr Absenken kann, oder aber die Ursache der Verschleimung in einer geschwächten Mitte liegt. Natürlich wird in der Praxis meist eine Mischform bestehen und die Behandlung beider Funktionskreise indizieren.

[95] Genau aus diesem Grunde ist die Übersetzung der WU XING als `fünf Elemente´, wie wir sie nicht nur in der populärwissenschaftlichen Adaption chinesischer Modelle (z.B. Barbara Kirschbaum „Ernährung nach den fünf Elementen“), sondern auch in der Fachliteratur (vgl. SCHNORRENBERGER S. 62 ff.) finden, nicht nur ungenau und irreführend, sondern schlicht falsch. Sie impliziert beim Leser einen Zusammenhang zwischen der westlichen Elementenlehre der Alchimie - also der traditionellen abendländischen Medizin der Humoralpathologie -  und dem chinesischen Wandlungsphasenmodell. Wenn es auch viele Übereinstimmungen gibt, besteht dieser Zusammenhang so nicht. `Elemente´ sind Teile des westlichen `Wissenschaftspuzzles´, wie es im cartesianischen-reduktionistischen Paradigma zu finden ist. `Wandlungsphasen´ hingegen sind Abschnitte von Zyklen.

[96] Nach Kaptchuk S. 332.

[97] Nach Porkert/Hempen S. 37 f.

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