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Vom mythischen Urbeginn bis zur ersten Materia medica

Die Wurzeln der abendländischen Phytotherapie

von Bernd Hertling

 

Zuerst das Wort, dann die Pflanze ...

Im Anfang war das Wort, kann man im Johannesevangelium lesen, und das Wort war bei Gott.

Auch wenn dem altgriechischen Begriff logos (lógos) mehrere Bedeutungen zukommen, neben `Rechnung' und `Rechenschaft' auch `Sinn', `Vernunft'; zuletzt wird es doch immer wieder mit `Wort', `Rede' übersetzt. Genaugenommen bedeutet es am Anfang aber `das Sprechen' - und wenn wir in der Zeit weiter zurückgehen, wesentlich weiter, in die frühgriechische Epoche, dann stoßen wir auf den berühmten Ausspruch des Asklepios, welcher nichts weniger als ein Kulturheros war, gilt er doch als der Begründer des Ärztestandes, welcher sagt: "Zuerst das Wort, dann die Pflanze und dann erst das Eisen." Wir kennen dieses Zitat als eine Verhältnismäßigkeitsregel, dergestalt dass am Anfang einer Therapie das Wort stehen soll, die Hinlenkung zum lógos im Sinne der Vernunft, also. Der Patient soll mit Hilfe des Wortes `zur Vernunft gebracht werden' soll aus seiner ihm schadenden Lebenshaltung heraus zu einer ihm gemäßen, welche der Gesundung dienlicher sein müsste, bewegt werden. Doch dieses Denken ist bereits klassisches Griechenland, hier klingt bereits der Vater der rationalen Therapie, Hippokrates (460 - 375 v.Chr.) an. Jene Zeit, als der sagenumwobene Asklepios lebte - oder auch nicht, wir wissen es nicht1) - pflegte andere Vorstellungen vom Wort. Das Wort war zu dieser Zeit mehr ein (Rhema), ein Zauberspruch, ein vom gottergriffenen Medium ausgestoßenes, Lallen, welches erst noch der Interpretation bedurfte. Was uns heute wieder mehr in den Bann schlägt als die für viele ausgediente Vernunft ist genau dieses irrationale Element, der Tanz und das Singen der Schamanen.

1)Vgl.: "Ob Homer lebte ist ungewiss, dass er blind war ist sicher!" Wie so oft weiß man über eine Person, deren Existenz keineswegs belegt ist erstaunlich gut Bescheid, während historisch fassbare Persönlichkeiten oftmals mehr Rätsel aufgeben.

Zuerst das Wort, dann die Pflanze, lesen wir - und oft genug beides zusammen! Jeder kennt die magischen Sprüche, die während der Zubereitung eines Heiltrunkes oder einer Salbe aufzusagen sind, damit das (cum grano salis) opus magnum gelinge. Dahinter stand die Vorstellung, dass auch die Pflanze ein beseeltes und geistdurchwebtes Lebewesen sei, welches nicht allein durch die Stofflichkeit wirke. Heute haben wir andere Namen für diese Ebenen: Man spricht dann von Information und Aroma, gemeint ist aber wohl letzten Endes das selbe. Das Wort dient also im vorliegenden Fall zur Invocation des in der Pflanze oder ihren Teilen schlummernden Geist-Seele-Kontinuums. Und auch die Vorstellung, dass man die Ganzheit der Pflanze gefahrlos zerteilen durfte, sofern man über ihr inneres Geheimnis Bescheid wusste, das sie am Ende als erneuerte Ganzheit, als das bewusste "Mehr als die bloße Summe der Teile" wiedererstehen lässt, stammt bereits aus dieser Zeit. Ein Zeugnis hierfür ist der Kult des Weingottes Dionysos, jene mal als wilde zügellose Gottheit der Orgien, mal als verweichlichter Jüngling in Frauenkleidern auftretende Epiphanie des bis dato unbekannten Gottes. In seinen Mysterien wird der Zyklus aus Tod und Auferstehung gefeiert, der Gott wird zerrissen - in einzelne Teile - und ersteht daraus hernach wieder neu, zur geheiligten Ganzheit, als Dionysos Zagreus, der wiedererstandene Zeus. Neben diesem Kult gibt es zahlreiche weitere, die das Heilwerden einer Gottheit mit dem Vegetationszyklus in Verbindung bringen, man denke nur an Persephone und Demeter, an Venus und Adonis, Atthis und Kybele. Gemein ist ihnen allen eine zeitweise Abwesenheit der Gottheit aus der Welt des Lichtes, indem es zu einem Abstieg in die Finsternis des schauerlichen Hades, der lichtlosen Schattenwelt der abgeschiedenen Geister, kommt.

 

Warum Pflanzen?

Weshalb kam man also auf die Idee, dass ausgerechnet den Pflanzen größere Bedeutung in der Heilkunde zukommen sollte als anderen Elementen des Daseins?

 

Die Urerfahrung der Kraft des Gewachsenen

Zunächst machte der Mensch, dies ist tatsächlich ein ubiquitäres Phänomen, sieht man einmal von den grönländischen Inuit ab, weltweit die Urerfahrung vom pflanzlichen Leben. Man riss die Pflanzen ab, brannte sie nieder, das Vieh fraß sie und was es noch alles für Formen der Zerstörung geben mag, und doch wuchsen sie neu aus dem Erdboden hervor. Unser deutsches Wort "Pflanze" legt nicht mehr von dieser Urerfahrung Zeugnis ab, wie es bei seinem griechischen Pendant der Fall ist: Das Wort `Pflanze' geht schon einmal von einem lateinischen Lehnwort, planta aus und bedeutet ursprünglich `Setzling', wobei die Parallelität des Wortes planta für `Pflanze, Setzling' und `Fußsohle' auffällt. Das so bezeichnete Objekt ist also die in den Boden verbrachte und mit dem Stampfen der Fußsohle festgesetzte Pflanze. Diese Pflanze wächst also nicht wild irgendwo auf, sondern wird vom Menschen in Kultur genommen und ist vielleicht gar schon ein von ihm durch Zuchtwahl künstlich verändertes, veredeltes, Produkt, welches auf irgendeine Weise von ihm genützt werden kann. Wir können davon ausgehen, dass am Anfang Früchte und Wurzeln von gesteigertem Interesse gewesen sein dürften, weshalb eben jene Pflanzen, welche ihren Schwerpunkt in diesen Vegetationselementen hatten, bevorzugt in Kultur genommen wurden. Sie unterscheiden sich dadurch vom weniger bedeutsamen `Kraut', welches vor allem durch eine Vielzahl von Blättern imponiert und erst sekundär - man denke hier an die Brassicaceae (Kreuzblütler) und die ihnen zugehörigen Kohlarten - kultiviert wird. Von da an findet sich zur Unterscheidung der Un-Begriff `Unkraut'!

Spätere Generationen haben sich bemüht, dies bereits bei der Namensgebung kennbar zu machen. Blättert man eine Materia medica der Phytotherapie durch, stößt man immer wieder auf das lateinische Epitheton sativus-a-um. Genau dieser Beiname kennzeichnet eine in Kultur genommene, veränderte Pflanze, leitet es sich schließlich von sator = Sämann her. So gibt es beispielsweise jede Menge an Crocus species, doch mit Crocus sativus ist der auf speziell vorbereiteten Feldern angebaute Safran gemeint. Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass, wann immer die Epitheta vulgaris -e oder communis -is, auftauchen, man ein `Unkraut' vor sich hat. Geht man also vom deutschen Begriff Pflanzenheilkunde für Phytotherapie aus, denkt man eigentlich zuerst an die essbaren Species und das vielzitierte Hippokrates-Wort von der Nahrung, die Medizin sein soll. Darüber hinaus ist aber von Bedeutung, dass der Mensch nur kennt, was er benennen kann - und, gäbe es nicht die Botaniker, Gärtner und ein paar Heilpraktiker, auch heute noch würde das Gros der Bevölkerung nichts davon merken, wenn einige Pflanzenarten ausstürben, da sie von ihrer bloßen Existenz schon gar nichts mitbekommen. Nicht umsonst gab Gott dem Adam in Eden den Auftrag, die Tiere und Pflanzen zu benennen, damit er für sie Verantwortung übernehme und auf sie achte. Vieles wurde wohl schon damals übersehen, wie ja auch heute noch alles was nicht auf den ersten Blick schön ist, oder sich für den Verzehr nicht eignet, schlichtweg als Unkraut bezeichnet wird und oftmals der Giftspritze zum Opfer fällt. Sieht man von einzelnen Ausnahmen ab, wird die Pflanze erst dann zum benennbaren Wesen, wenn sie eben gepflanzt, also kultiviert, wird, vorher verschwimmt die Einzigartigkeit der jeweiligen Species im Gewirr der vor sich hingrünenden Botanik. Mit anderen Worten, das Interesse beginnt mit dem Nutzen. Ganz anderes in der griechischen Sprache, wo die Pflanze mit jnton phyton oder jnteuma phyteuma, beides neutra, bezeichnet wird und wörtlich `das Gewachsene', `Gewächs' bedeutet. Dabei ist dieser Begriff der wohl nächstverwandte zum griechischen `Natur-Begriff' physis2 der wörtlich `gewachsen -, geworden sein', `das Hervorgebrachte', also das `natürliche Sein' das ein immerfort Werdendes ist, meint. So ist auch das Selbstverständnis des antiken Menschen nicht so sehr von der Vorstellung seiner Geschöpflichkeit geprägt, sondern er sagt von sich, er `sei von Natur aus der oder der3, worin auch seine Erkenntnis von seinem gewordenen so-sein mitschwingt. Die Bedeutung des Wortes lässt sich im Deutschen nicht ganz erfassen! Gerade in Hinsicht auf die Botanik als Ausdruck der Physis erscheint Heideggers Interpretation des Physis-Begriffs überlegenswert: Er stellt anstelle von `phyein', `gewachsen, geworden sein', `phaeinein', `ans Licht bringen' und leitet sodann Physis von diesem Verb ab, was er dann mit `das leuchtend Offene' übersetzt4. Schließlich kann man beide Varianten, sowohl die des gewordenen und Schlichtweg vorhandenen, als auch das Rufscheinen eines geoffenbarten Lichtes in der Flora erkennen. Beides legt Zeugnis ab von einer Urerfahrung des Menschen. Doch zurück zu den Hellenen: Hier zählt das Grün in der Botanik nicht erst wenn es ein vom Menschen gepflanztes Objekt ist, sondern bereits als eigenständiges Subjekt. Das, was aus eigener Kraft oder aus dem Willen der Götter sprießt und gedeiht, blüht, fruchtet welkt und wieder vergeht - um in erneutem Zyklus ihr Leben fortzutragen - wird staunend registriert und zum Bestandteil religiöser Bräuche5.

 

2Vgl. Physik, Physiologie, physisches Sein etc. Anders im Lateinischen, wo eben auch der Unterschied planta als etwas künstlich Gepflanztes von natura dem `Gewordenen', `Geborenen' gemacht wird.
3Hierfür steht das in seiner ganzen Tragweite schier unübersetzbare péphyka.
4Was dann bei ihm leider in lumen Licht, Hohlraum (= > Gähnende Leere,) = Nichts mündet.
5Ich möchte hiermit nicht sagen, die germanischen oder keltischen Bewohner Mitteleuropas hätten sich anders verhalten! Es geht nur um den Unterschied zwischen einem "Wildkraut" und einer kultivierten "Pflanze", was sich eben auch in den verwendeten Wortgebilden widerspiegelt.

Die Frage, ob man vom Sternenlauf auf die Vegetation rückschließend das Jahr als stetig wiederkehrenden Zyklus erkannte, wie heute vielfach angenommen wird, oder ob es nicht doch eher so war, dass die Naturbeobachtungen von den Vegetationszyklen in der Botanik den Jahresablauf als Kreislauf nahe legten, würde ich nicht unbesehen zugunsten der Astronomie entscheiden. Sprechen doch die diversen Kalenderreformen und auch die griechischen Monatsnamen, die sich vielfach auf die Vegetation beziehen, eher zugunsten eines von der Vegetation bestimmten Jahreslaufes, wie er für den Landbauern wichtig ist. Man erkannte also in den Pflanzen lebenhervorbringende und -erhaltende Kräfte am Wirken, die auch dann noch potentiell wirksam waren, wenn sie scheinbar tot, verdorrt, verwelkt, in die Erde zurückgegangen waren.

Es war vorher vom Willen der Götter die Rede, welcher die Pflanzen gedeihen lässt. Natürlich stehen am Anfang Vegetationsgötter und -göttinnen, welche für die Begrünung der Erdoberfläche ganz allgemein zuständig sind, doch müssen, wenn man weiter spezifizieren will und das sollte man, verschiedene Götterklassen differenziert werden, welche für bestimmtes Grün zuständig sind. So ist Demeter die Göttin des Ackerbaues und vornehmlich des Getreides, Dionysos lässt die Weinrebe gedeihen und diverse dunkle, chthonische Gottheiten, insbesondere die dreigesichtige Hekate, lassen giftige und gefahrbringende Pflanzen dem gleichgültigen Erdboden entsprießen. Heute kaum mehr bekannt ist eine kleine Gottheit aus dem Gefolge des Dionysos. Er ist der Hauptfeind aller Betonköpfe dieser Zeit, deren einziges Ziel im pflegeleichten grauen Einerlei gepflasterter Garageneinfahrten liegt, deren Gärten unter einer keimfreien streichholzlangen Rasenmonokultur die nur für Golfspiele (im 20 m2 großen Garten!) geeignet ist dahinsiechen, deren bester Freund der Baumfälldienst und die Un-Krautspritze sind und heißt Bryaktes! Sein Name klingt noch in der Bryonia an, welche für ihr üppiges Wuchern bekannt ist. Er überzieht die Welt mit Grün, lässt an den unmöglichsten Stellen noch Blumen, Ranken, Sträucher und Bäume wachsen und verwandelt, lässt man ihn nur walten, die hässlichsten und abgestorbensten Betonsteppen binnen kurzer Zeit in ein Eldorado für Leben aller Art. Er verkörpert die griechische Variante dessen, was Hildegard v. Bingen als die Viriditas, die Grünkraft der Welt, besang. In dieser in unseren Breiten heute so übelbeleumundeten Kraft birgt sich das Geheimnis vom Werden und Vergehen, vom alldurchströmenden Atem aus Tod und Leben. Auch das Antlitz des ägyptischen Vegetationsgottes Osiris leuchtet nicht nur weil dieser als verwesender Leichnam im Sarkophag dargestellt wird in schillerndem Grün. Dieses Grün steht auch für die Erneuerungskraft, die in seiner Mumie steckt, die im Zeugungsakt mit Isis den Zyklus des Lebens neu entfacht, welcher dann in der Geburt des Horuskindes seine Erfüllung findet.

Außerdem gibt es schöne Wandmalereien aus altägyptischen Gräbern, die den potentiell lebendigen Leichnam des Osiris als "Körnermumie" darstellen, also eine Mumie, aus welcher fruchtführende Getreidehalme sprießen. Neben diesem Kult der Thebaischen Trias, Osiris, Isis, Horus bringen die eleusinischen Mysterien und Jesu Gleichnis vom Weizenkorn, das sterben muss um Frucht zu bringen, diese Urerfahrung von der stetigen Wiederkehr pflanzlichen Lebens aufgrund der ihm innewohnenden Lebens-Kraft auf den nachempfindbaren, begreiflichen Punkt. Diese Urerfahrung legte es also dem frühgeschichtlichen Menschen nahe, dass er mit der Einverleibung dieser unbändigen, den Pflanzen innewohnenden Lebenskräfte, sich diese Kräfte und Energien selbst nutzbar machen konnte. Wer also sich schwach fühlte oder anderwärtige Widerwärtigkeiten auszustehen hatte, würde also rasch auf die Idee kommen, sich im Reich der Flora nach Kräftigendem und Heilendem umzusehen.

 

Ausprobieren oder Hellseherei?

 

Doch nicht nur segensreiche Geschöpfe bringen die Vegetationsgötter hervor: Wo immer ein Ungeheuer sein Leben lassen musste, wo die Samen des alten Himmelsgottes Uranos die Erde netzten, entsprangen ihr dem Menschen widerwärtige, giftführende Kräuter, hören wir, und nicht jeder weiß darüber Bescheid, im Gegenteil. Auch heute noch kommt es vor, dass sich Menschen durch pflanzliche Substanzen schaden - ich spreche hier nicht vom Nikotin in der Tabakpflanze (!) - die sie versehentlich, aus Unkenntnis eben, zu sich nehmen, wenngleich die Vergiftungsfälle mit Pflanzen bei weitem hinter jenen mit chemischen Substanzen zurückbleiben.

Auch wenn die Lehre der Signatur suggeriert, man müsse die innere Giftigkeit der Pflanzen am äußeren Anblick erkennen können und dies bei einigen besonders potenten Giften auch zutreffen mag6, in den meisten Fällen kann die Natur den Menschen überlisten. In der Frühzeit sah man darin nicht so sehr das Wirken eines Prinzips aus Zufall und Notwendigkeit, (Epikur/Monod) sondern vielmehr das Werk böser Geister und dem Menschen übelgesinnter Kräfte, die neben den neutralen Vegetationsgöttern und den besonders wohlwollenden Ackerbaugöttern ein gleichberechtigtes Dasein fristeten. Ohne Unterweisung, das sah man bereits in den frühen griechischen Epochen klar ein, musste der Mensch im Umgang mit unbekannten Pflanzen langfristig den Kürzeren ziehen. Gerade die Griechen erkannten bald, dass die Kräfte, die den Pflanzen innewohnten nicht über gezielt auf den Menschen gerichtete Wirksamkeit in positiver oder negativer Weise verfügten. Sie erkannten wohl das im Pharmakon befindliche potentielle Vermögen etwas zu leisten (= dynamis), doch blieb dabei noch völlig offen, ob zu, Nutzen oder Schaden des Anwenders.

 

6Man denke z.B. an das Glotzauge der Belladonna, das finstere Gesicht des Bilsenkrautes und den stechenden Blick der Datura und suche bei Taxus, Goldregen und Seidelbast um nur ein paar zu nennen!

 

Cheiron und Asklepios, die Kulturheroen der Heilkunde

Cheiron7 war, da ihn sein Vater, der Titan Kronos, in der Gestalt eines Hengstes mit einer Okeanide gezeugt hatte, Kentaur, also ein Mischwesen aus Mensch und Pferd. Im Unterschied zu vielen anderen Artgenossen war er unsterblich. Der historische Kern der Kentaurensagen liegt wohl in der griechischen Volksgruppe der Dorier, die um 2000 v. Chr. ins heutige Griechenland vordrangen und später die Stämme der Peloponnes bildeten. Die Dorier waren anders als Jonier ein Reitervolk, und boten so, hoch zu Ross, einen ungewohnten Anblick: Mit dem Pferdeleib schier verwachsene Menschen die man dann als Pferdemenschen sah8.

 

7Latinisiert Chiron. Ich halte mich an die ursprüngliche, griechische Schreibweise, in der er cheíron heißt, was sich von die Hand ableitet.
8Auch heute noch sagt man, dass z.B. die Ungarn schon auf dem Pferd zur Welt kämen...

 

Offensichtlich brachten aber diese Völker auch Kenntnisse in der Heilkunde, die damals in erster Linie in Pflanzenheilkunde bestand mit, sonst würde nicht in zahlreichen Mythen und Sagen diese besondere Leistung des menschenfreundlichen Cheiron Erwähnung finden. Er erzog die mythischen Heroen von Hellas, Achilleus, Iason und Herakles und unterwies sie dabei auch in der Heilkunde. Es reichte also nicht aus, dass von der Gestalt eines Fürsten das Heil ausstrahlte, er musste auch etwas an ch(e)irurgischem (handwerklich; kommt von Cheiron, der die Hände benutzen kann) Können mitbringen. Sein als Heilkundiger berühmtester Schüler jedoch war Asklepios. Dieser war als Sohn des Apollon, des leuchtenden Paieon, dem Urgrund aller Heilkraft, besonders zur Heilkunde prädestiniert. Da seine Mutter Koronis noch während sie mit ihm schwanger ging dem Vater untreu wurde und Apollon sie im Zorn tötete, entnahm er das Ungeborene und ließ es von einer Ziege nähren. Er hatte auch die Hellsichtigkeit seines Vaters ererbt, so dass ihm die Kunst eigen war, das Schicksal seiner Patienten vorherzusagen. Man unterschied also zwischen Heilkunst, die vor allem in der Prognose bestand und Heilkunde: Handwerkliches Können und Vorgehen. Trotz seiner hellseherischen Gabe vermochte Asklepios anscheinend nicht ,gute' von `bösen' Pflanzen durch das alleinige Anschauen zu unterscheiden. Es bedurfte dafür also fachlicher Kenntnisse und exakten Wissens. Asklepios gilt also als der Ahnherr der Ärzte, und sogar Hippokrates führte die Genealogie seiner Familie auf diesen Heros zurück.

Die Fähigkeiten des Apollonsohnes gingen so weit, dass er sogar Tote wieder zum Leben erwecken konnte, was letzten Endes den Neid des Zeus erweckte, der ihn schließlich mit einem Blitz tötete. Auch Cheiron nahm ein tragisches Ende: Nachdem ihn sein Schüler Herakles mit einem Giftpfeil versehentlich verwundet hatte, durchlitt er grässliche Schmerzen, die Wunde schwärte und ließ sich mit keiner bekannten Kunst heilen; Der unsterbliche Kentaur aber konnte seinen Leiden nicht durch den Tod entrinnen und bot sich schließlich für den an den Kaukasus geschmiedeten Titanen Prometheus im Tausch an. Obwohl Zeus das Opfer des edlen Kentaurs nicht annahm, gewährte er ihm die Gnade zu sterben, und als Auszeichnung seines Edelmutes versetzte ihn der Himmelsherrscher in die Sterne, wo er den Menschen noch heute als Sternbild des Schützen durch den Tierkreis wandernd leuchtet.

In Asklepios steht das Urbild des schamanischen Heilers vor uns: Er verfügt über Hellsichtigkeit, bzw. die Fähigkeit in andere Seinsebenen einzutauchen um darin den Schlüssel zur Krankheit des ihm anvertrauten Patienten zu finden. Mit anderen Worten: Er `sieht', ob und wenn ja, welche Behandlung überhaupt Erfolg haben kann und verfügt über die nötigen Kenntnisse, diese Behandlung in die Wege zu leiten. Der Heiler dieses Typs kennt die Kräuter und ihren Wert, ihre Kraft und Vermögen und kann sie entsprechend gezielt einsetzen. Auch als es die Schrift schon gab, war ihre Anwendung in vielen Berufen verpönt, man fürchtete, die Macht des Wortes könne geschmälert werden, fasse man es mit Hilfe der Schrift, und so wurde das heilkundliche Wissen der charismatischen Heiler über lange Zeitläufe nur mündlich weitergegeben9. So kam es denn auch im Laufe der Zeit und Generationen zu zahlreichen Fehlern und Missinterpretationen. Darüber hinaus verließ sich der eine Zweig der Asklepiadenfamilie mehr auf die übernatürlichen, denn auf die in der Natur innewohnenden Heilungskräfte, und es entwickelte sich ein mit dem heutigen Lourdes vergleichbarer Heilkult an Heiligtümern des Asklepios, von dem sich die andere Linie der Familie, die Hippokratiker, mit Schaudern abwandten.

 

9 Übrigens eine Vorgehensweise die auch die keltischen Druiden pflegten; ihr Wissen starb mit ihnen aus. Noch in der Völkerwanderungszeit verweigerte der Hunnenkhagan Attila schriftliche Verträge, nicht weil er sie nicht zu halten gedachte, sondern aus Furcht vor dem Zauber der Schrift!

 

Wissenschaftlichkeit und Forschung

Auch wenn Hippokrates' Ruf als der Vater der wissenschaftlichen Medizin unbestritten sein mag, im Bereich der Phytotherapie wissen wir von Rezepturkompendien seiner Schüler, die im Rahmen des Corpus hippocraticum überliefert sind, es existiert jedoch keine ausgesprochene Materia medica, wie überhaupt das klassische Altertum ohne dieses wertvolle Hilfsmittel auskommen musste. Erst in der nachklassischen Zeit des Hellenismus machten sich die Gelehrten daran, eine synoptische Zusammenfassung der verwendeten Heilmittel abzufassen, wobei streng nach Ursprung der Essenzen in pflanzliche, tierische und mineralische Stoffe unterschieden wurde. Vor allem der Sammel- und Katalogisierleidenschaft des Aristoteles verdanken wir das erste grundlegende Werk dieser Art aus der Feder seines Schülers Theophrastos (370 bis 285 v.Chr.). Dieser `Vater der Botanik' hieß eigentlich Tyrtamos und stammte aus Eresos auf der Insel Lesbos. Mit ihm, der ein Universalgelehrter war - mitunter packt einen der Neid auf Menschen, welche in Zeiten lebten, als dies noch möglich war - beginnt die morphologische und systematische Beschreibung der Flora. Das Resultat seiner Bemühungen hat heute noch grundlegenden Wert: Die Trennung in Bäume-Sträucher-Stauden-Gräser und in immergrüne und laubabwerfende Pflanzen sowie zwischen Nackt- und Bedecktsamern. Ihm verdanken wir die erste Materia medica aus der Sicht der Phytotherapie: Von insgesamt 20 Büchern, welche sein botanisches Lexikon umfasste, sind mehr als die Hälfte (Buch IX/8 - Buch XX) den Heilpflanzen gewidmet!

Durch die Überlieferung der Namen, welche damals fast immer auch beschreibenden Charakters, sowohl in morphologischer als auch utilitaristischer Hinsicht waren, wurden die in der Physis zwar offen vor den Augen liegenden, aber dennoch verborgenen Schätze allgemein zugänglich. Doch wenn man weiß, wie die Schüler des Peripatos, also die Aristotelesjünger, an die Erträge ihres Forscherdranges kamen, ist natürlich ein gewisser Rest Skepsis angebracht. Man sammelte zunächst einmal alles, machte zwar kenntlich, ob die jeweilige Quelle glaubwürdig war oder nicht, doch ging man oft genug Fabulierern und Aufschneidern auf den Leim. Es sei hier exemplarisch auf die von Aristoteles durchaus für wahr gehaltene Chelidoniumlegende verwiesen, die ich hier, da ich keine Eulen nach Athen tragen will, nicht wiedergebe. Dennoch finden wir die erste komplette Pharmakopoe erst mehrere Jahrhunderte später. Ihr Ursprung ist zu anekdotenhaft, als dass man es sich entgehen lassen könnte, ihn kurz zu beschreiben.

In der Aera der späten römischen Republik, also dem letzten vorchristlichen Jahrhundert, gingen zwar die Römer daran, die Welt zu erobern, doch stellten sich ihnen noch namhafte Fürsten entgegen. Einer davon war Mithridates VI Eupator, König von Pontos. Er herrschte über die Nord- und Ostküste des Schwarzmeeres und war ein hellenistischer Herrscher par excellence. In ihm verbanden sich Bildung und staatsmännisches Vermögen des aufgeklärten Menschen seiner Zeit mit der Wildheit und Grausamkeit der Barbarenvölker denen er entstammte zu einer schillernden Persönlichkeit. Wie viele Herrscher der Epoche lebte er in der beständigen, und da er im weiten Kreis seines Familienclans aufgeräumt hatte wie die Axt im Walde, durchaus begründeten Angst, jemand könnte ihn aus dem niedrigen Beweggrund der Rache für Verwandtenblut vergiften wollen. Und so beauftragte er seinen Leibarzt, alle Pflanzen auf ihre Giftigkeit hin zu prüfen und ihn gegen die wichtigsten zu immunisieren. Dieser Arzt war, wie könnte es in dieser Zeit anders gewesen sein, Grieche und hieß Krateuas Rhizotomos (der Wurzelschneider). Er sammelte nun also ebenfalls alles, was er zum Thema finden konnte, bemühte die Rezepte der Hippokratiker und die Tränke des mehr magischen Zweiges der Heilkunde gleichermaßen und präsentierte am Ende ein für seine Zeit vollständiges Verzeichnis aller Gift- und Heilpflanzen. So wurde also, quasi als Nebenprodukt der Phobie eines antiken Gewaltmenschen die erste Pharmakopoe in die Welt gebracht. Erwähnt sei noch kurz das Ende ,Mithridates' der sich in völliger Selbstüberschätzung auf einen langen Krieg mit Rom eingelassen hatte. Am Ende, 63 v.Chr., wurde er von Pompejus magnus besiegt und, da er nicht den Triumphzug des Römers als Beutestück zieren wollte, beschloss er, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Doch während seine Familie um ihn herum an dem dafür vorgesehenen Gift verschied, zeitigte es an dem bejahrten König keine Wirkung - Krateuas hatte mit seiner Immunisierung offensichtlich ganze Arbeit geleistet - und Mithridates musste sich von einem seiner keltischen Leibwächter erdolchen lassen. Er war, auf besondere Weise, ein Opfer der Pharmakologie geworden...

 

Schluss

Abschließend kann man sagen, dass die Wurzeln der abendländischen Phytotherapie eher einem verzweigten Rhizom als einer einzigen tiefgründigen Radix gleichen, doch wird man nicht umhinkönnen, sich dem Urteil eines berühmten Zeitgenossen des Krateuas, Marcus Tullius Cicero, anzuschließen, wenn er seinem leider weniger bekannten aber charakterstärkeren Bruder Quintus schreibt: "Dem Asklepios verdanken bei weitem weniger Menschen ihr Heil als dem Hippokrates."

 

Anschrift des Verfassers:
Bernd Hertling
Heilpraktiker
Nettelkofenerstr. 1
85567 Grafing

 

Literaturverzeichnis:
Bengtson, Hermann: Handbuch der Altertumswissenschaften III/4 5 München, 1980
Bremmer, Jan: Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt, 1997
Detienne, Marcel: Dionysos Göttliche Wildheit, München, 1995
Gemoll: Griechisch-Deutsches Schulhandwörterbuch
Grimal, Pierre: Mythen der Völker I, Frankfurt /M. 1967
Grmek, Mirko. D.(Hg.) Geschichte des medizinischen Denkes I, München, 1996
Kerenyi, Karl: Die Mythologie der Griechen 2 Bde. München, 1983
Kudlien, Fridolf: Der Beginn des medizinischen Denkens bei den Griechen, Zürich 1967
sowie eigene Aufzeichnungen

 


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